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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

In Campanellas Werkchen vom Sonnenstaat ist der Ideenkreis des restaurierten und durch die Renaissancebildung erweiterten Katholicismus am rücksichtslosesten dargestellt worden, die Jesuiten haben ihn in Paraguay am rücksichtslosesten durchgeführt; und insofern ist eine Vergleichung jenes Schemas und dieses Experimentes nicht ohne Interesse.“

Mit diesem ersten geschichtlichen Experimente hat es folgende Bewandtniß.

Am Ende des sechzehnten Jahrhunderts drangen die Missionäre der Jesuiten in den Mündungsländern des Parana ein, jenes großen südamerikanischen Stromes, der als La Plata sich in den Atlantischen Ocean ergießt. Sie erwarben sich vom spanischen Mutterlande allerlei Rechte zu ihren Gunsten, hatten aber mit den schon früher eingewanderten Spaniern zu kämpfen, welche ihrerseits die Eingeborenen auszunutzen suchten; die Jesuiten setzten es schließlich durch, daß aus ihren Stationen, „Reduktionen“ genannt, die Spanier ausgeschlossen wurden. Aus dieser Missionsstationenverwaltung, welche sich zu Cordoba einen Mittelpunkt schuf, der 31 derartige Bezirke unter sich hatte, wuchs das heraus, was man wohl einen „Jesuitenstaat“ nennen kann. Durch die Mission kam nach und nach eine Eingeborenenbevölkerung von im ganzen 100 000 bis 300 000 Seelen in die Macht der Patres; diese Eingeborenen, der Rasse nach gutmüthige Indianer, Guarani genannt, waren sehr leicht zu lenken, und da bei ihnen der Eigenthumsbegriff infolge niedriger wirthschaftlicher Entwicklung noch unausgebildet war, so gelang es den Leitern der Stationen leicht, alle Gegenstände, welche sonst ins Privateigenthum übergehen, für „Tupambak“, d. h. Sache Gottes, zu erklären, abgesehen von dem Gebrauchseigenthum. In den einzelnen Reduktionen war bald die Sorge für den Lebensunterhalt vom Einzelnen auf die Gesamtheit übergewälzt; der Grund und Boden sowie das Weidevieh, welches sehr zahlreich war, wurde nebst Saatkorn den Familien auf bestimmte Fristen überwiesen. Das Zugvieh mußte nach verrichteter Bestellarbeit wieder zurückgegeben werden. Das Fleisch zum Essen wurde jeden zweiten Tag, die Baumwolle zum Verspinnen und das besonders wichtige Salz alle Sonntage, die Kleidung jährlich zweimal vertheilt, das Handwerk systematisch geordnet und beaufsichtigt. Der Handel im Innern war lediglich Tausch der Naturalerzeugnisse durch die Leiter der einzelnen Kolonien. Die Ueberschüsse, welche erzielt wurden, traten nur an einem Punkte, in Buenos Ayres, in den Welthandel ein, und der Erlös daraus floß dem Orden zu. Unter diesen Umständen war ein Geldumlauf innerhalb des Jesuitengebiets nicht nöthig und fand daher auch nicht statt. Das Arbeitsleben war durch straffe Organisation des täglichen Gottesdienstes, der Feste, der Beichten, der Erziehung wohl vorbereitet und geregelt; dies war um so leichter, als nur Siedeldörfer in der Höhe von 2500 bis 8000 Seelen angelegt wurden und also auch die Landbebauer völlig centralisiert und überwachbar waren. Mit ausgesuchter Berechnung wurden alle menschlichen Triebe und ihre Bethätigung in den Dienst des Gemeinwesens gestellt und diesem rücksichtslos unterworfen, so vor allem die Künste, die Feste und öffentlichen Lustbarkeiten. Unverbesserliche Wilde wurden einfach über den Strom geschafft. Die nothwendige Verbindung zwischen der in den Patres verkörperten herrschenden Aristokratie und der Masse stellten die sogenannten „Corregidoren“ dar, Gehilfen der Patres, aus den Farbigen gewählt, welche die Aufsicht bei der Arbeit führten, die Nahrungsmittel vertheilten etc. Sie waren ferner für den Fall eines Krieges Mitbefehlshaber, denn auch hierfür war gesorgt; der Gesamtstaat konnte – in seinen Blüthezeiten – bis zu 30 000 bewaffnete Krieger stellen.

So etwa war der Staat beschaffen, dessen Ordnung von zwei Italienern, Cataldino und Maceta, entworfen worden war und der auch in den Jahren seiner größten Ausdehnung von nur höchstens 100 Personen geleitet wurde. Lange blieb er unbeachtet in jener Ecke Südamerikas, die erst in letzter Zeit allmählich in Westeuropa näher bekannt wird. Er war thatsächlich, wenn man den Ausdruck gebrauchen will, eine große jesuitische Reinertragsunternehmung; die Bestimmung in dem Privilegium Philipps V. (1645), daß der Handel der Jesuiten nur zum Nutzen der eingeborenen Indianer betrieben werden dürfe, wurde selbstverständlich nicht beachtet, und es ist sehr wahrscheinlich, daß von dem auf etwa 3 bis 6 Millionen Mark sich belaufenden jährlichen Reinertrag gegen die Hälfte an den Jesuitengeneral abgeliefert worden ist. Die Indianer waren also hier nicht freie Menschen, sondern lediglich unbewußte Sklaven anderer geworden. Als im Jahre 1750 Spanien und Portugal durch Vertrag ihre Gebietssphären in Südamerika gegenseitig abgrenzten, fielen die Reduktionen der Jesuiten an Portugal. Die Jesuiten aber ließen es auf einen Krieg gegen Portugal ankommen, dessen leitender Minister damals der berühmte Emanuel Pombal war. Pombal veröffentlichte im Jahre 1757 eine mächtig wirkende kurze Denkschrift über die Jesuitenrepublik, welche den ganzen Geist der Gründung und der Gründer bloßlegte und zu thatkräftiger Bekämpfung des Gegners führte. Im Jahre 1768 wurden die Jesuiten in Paraguay an einem Tage fast sämtlich verhaftet und nach dem Kirchenstaate verbracht; die Folge hiervon war, daß auch die Niederlassungen sehr bald verödeten und mit der Bevölkerung die ganze Kulturarbeit wieder auseinanderfiel.

Angesichts der vielfach niedrigen Beweggründe, namentlich auf seiten der spanischen Nachbarn, welche zur Niederwerfung dieses merkwürdigen sozialen Gebäudes inmitten des Urwaldes der südlichen Halbkugel geführt haben, ist man versucht, in das Urtheil des berühmten Verfassers des „Geistes der Gesetze“, des Franzosen Montesquieu, einzustimmen, der sagt: „sie – die Jesuiten – haben die Wilden vereinigt, genährt, gekleidet, und wenn sie nichts gethan hätten, als den Gewerbfleiß unter den Menschen vermehren, so würden sie Großes gethan haben“ – ein Urtheil, das auch der Angehörige des Ordens und Reiches Dobrizzhofer herausfordert, wenn er ganz freimüthig sagt: „Lasset uns lieber darauf denken, wie wir das auch in Europa zustande bringen, was ohne Zwang und ohne Geld bei den Guaranis bewerkstelligt worden ist, nämlich, daß einer für alle und alle für einen arbeiten, daß niemand etwas zu kaufen und zu verkaufen habe, daß der Gebrauch des Geldes aufhöre und daß es eine Wahrheit werde, daß den Göttern alles um die Arbeit feil sei.“ Trotzdem wird man schließlich dem Abbé Raynal recht geben müssen, welcher, obschon ein glühender Vertheidiger der Patres, dennoch den entscheidenden Maßstab für die Leistungen derselben darin erst sehen zu dürfen glaubte, ob sich die Guarani der Auflösung des geschaffenen Staates, d. h. der Vernichtung der Quelle ihres Glücks, widersetzen würden oder nicht. Sie haben es nicht gethan – was Raynal noch nicht wußte. Ihre kindlichen Bittgesuche an die Machthaber des Mutterlandes zeugen nicht von derjenigen Kraft und Ueberzeugung, welche nothwendig wäre, wenn man ein zustimmendes Urtheil zu den Erfolgen der jesuitischen Erziehung und Gesellschaftsordnung darauf gründen wollte. Die Jesuiten hatten die Eingeborenen als Naturkinder gefunden; sie haben dieselben aber nicht zu Männern gemacht, sondern als Kinder künstlich erhalten. In diesem Punkte liegt die Schwäche nicht bloß des ganzen geschichtlichen Experiments, sondern auch des Prinzips, aus welchem dasselbe hervorging. Die Masse der Bürger des jesuitischen Gemeinwesens setzte sich nicht zusammen aus selbständigen, zu freiem Selbstbewußtsein, zu eigener Selbstbeschränkung heraufgeführten Persönlichkeiten; sie waren vielmehr planmäßig zu Menschen zweiten Grades, niederer Ordnung herangebildet, sie waren bewußtlose, unselbständige Wesen, die ihr inneres Leben von anderer Seite erhielten und erhalten mußten, um überhaupt zu sein und sich zu bethätigen. Die ganze Gesellschaft war wohl ein richtig gehender Mechanismus, der auch so lange in Ordnung und Thätigkeit blieb, als die treibende Kraft der Leiter von außen her wirksam war, der aber sofort leb- und bewegungslos zusammenbrechen mußte, als dieser Anstoß wegfiel. Jene Kolonie war kein lebendiger, menschlich selbstbewußter Organismus, in welchem die Einzelglieder neben der nothwendigen und grundlegenden Gebundenheit an das Ganze noch genug Spielraum für die Entwicklung der Einzelpersönlichkeit gehabt hätten.

Wenn man gerecht sein will, kann man nicht umhin, festzustellen, daß die Fehler, welche die Jesuiten bei der äußeren Gründung ihres wirklichen Staates gemacht haben, wohl kaum größere sind als diejenigen, welche die Staats- und Popularphilosophen dieses Zeitraums in der inneren Begründung der Staatstheorie gemacht haben. Die mechanisch-atomistische Weltanschauung, welche sich, von England und Frankreich ausgehend, mehr und mehr auch mit der Untersuchung der Staatstheorien befaßte, war – an unserer heutigen entwickelteren Einsicht gemessen – in ihrer Art keineswegs besser als die Praxis der jesuitischen Missionäre, unter welchen anerkanntermaßen bewährte Menschenfreunde und ehrliche Richter sich befunden haben. Weder

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 299. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_299.jpg&oldid=- (Version vom 4.7.2020)