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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

der Sommerdürre jedoch, wenn nur noch eine dünne Wasserader im Grunde des bloßgelegten Grabenbettes herschlich und seine schlimmen Vertiefungen mit trüber Lache füllte, dann sah man hier die Hügel schwarzen Schlammes am Kanaleingang, und dann wimmelte es in diesem garstig dunstenden Schlamme und Moder von feisten Ratten. Einmal hatte Lutz in solcher Jahreszeit sein Bäschen halb zwangsweise an die Kellerluke im Mühlbau geführt, damit sie sehe, wie er mit seiner Armbrust und mit Bolzen nach den Ratten schoß. Für ihn war das ein echtes Bubenvergnügen gewesen; sie hatte damals einen lebhaften Abscheu vor dem Orte gefaßt. Und jetzt stand ihr die dunkle Höhle des Kanaleingangs immer vor Augen, zur Zeit mit trüber Fluth gefüllt, und ein unsägliches Grauen bemächtigte sich ihrer vor einer gewissen Vorstellung: der fühllose Körper des Knaben da hineingezogen von den Gewässern; innen in stockender Enge festgehalten, ein Sammelpunkt für alles, was modernd, verwesend vom Wasser mitgeführt wurde und nun hier nicht weiter konnte. Dann, im blinden Dunkel massenweis herzulaufend auf den schlammigen Mauervorsprüngen, das ekle Geziefer … und nun, der goldene Kopf, das liebe Angesicht zerstört, so grauenvoll – nein, der Gedanke war nicht zum Ausdenken!

Jetzt kam es vom Grasgarten in langsamen Schritten zurück, und langsam und widerwillig erhob Polyxene den Kopf. Die Männer gingen leer; Dietlieb schüttelte schon von weitem den Kopf – sie hatten, soweit der Graben offen lag, in seinem Bette nichts gefunden.

„Und daß er schon fortgetrieben sein sollte mit dem Wasser, unter die Erde, glaub’ ich auch nicht,“ sagte Dietlieb herzutretend und sah rathlos aus. Er hatte fest geglaubt, daß die Stangen da eine Lösung des unglückseligen Räthsels zu Tage fördern würden. Aber diese Lösung fand sich nicht, heute nicht und nicht an den folgenden Tagen.

(Fortsetzung folgt.) 




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Weltverbesserer.

Von Dr. J. O. Holsch.
IV.
Der Jesuitenstaat in Paraguay und anderes.


Auf die Höhe der Gedanken eines Thomas Morus, dessen „Utopia“ wir in unserem letzten Artikel erörtert haben, hat sich jahrhundertelang kein „Weltverbesserer“ erhoben.

Weder die lawinenartig durch Deutschland rollende Bewegung der Widertäufer und Schwärmer unter Thomas Münzer, noch die süddeutsche Bauernerhebung haben ausgebildete, eigenthümliche wirthschaftliche Grundanschauungen gezeitigt oder sich auf solche berufen. Münzer ließ den Bauern durch seine Sendlinge sagen: „Das Reich Gottes ist vor der Thür; nunmehr sollt ihr den Fürsten nicht mehr gehorchen, sondern sie totschlagen und verbrennen; denn es hören alle Fürsten und Unterthanen, Vornehme und Geringe, Arme und Reiche auf; einer ist dem andern ganz gleich.“ Daß solche Lehren in manchen Kreisen wohl gefielen, leuchtet ein; man kann aber mit dem besten Willen nicht sagen, daß sie besonders neu und vernünftig gewesen wären; sie entsprangen nicht nur einer Verkennung dessen, was die Schrift bezw. Christus unter dem „Reich Gottes“ versteht, sondern auch einer Verkennung des wirklichen Lebens der damaligen Zeit.

Die zwölf Artikel, welche von den süddeutschen Bauern aufgestellt, von Melanchthon nicht gebilligt wurden, tragen zwar – was Luther als „eigennützig“ verwarf – fast durchweg einen sozialen und wirthschaftlichen Charakter, aber sie beschränken sich auf Entlastungsforderungen, entbehren also ebenfalls der klaren, positiven Grundanschauungen von dem Wesen einer künftigen Wirthschaftsordnung. Von einer Umgestaltung der wirthschaftlichen Gesellschaftsordnung war nirgends die Rede, und ausdrücklich findet sich im 12. Artikel die Versicherung, daß die Bauern von ihren Forderungen abstehen wollten, wenn man dieselben auf Grund der Heiligen Schrift als unberechtigt nachweise.

Auch alle die anderen größeren reformatorischen Bewegungen und Erhebungen, durch welche die ganze mitteleuropäische Welt dazumal auf Generationen geschwächt und zerrissen wurde und welche im Herzen Europas in den Dreißigjährigen Krieg einmündeten, hatten zwar durchweg ausgesprochene wirthschaftliche Unterströmungen und Wurzeln, allein nirgends – und das ist hier die Hauptsache – klar ausgesprochene wirthschaftliche Ziele. Es wird auch nie gelingen, was eine gewisse Richtung in der Geschichtsdarstellung gegenwärtig unternimmt, jene geistigen Bewegungen, wie alles Geistesleben überhaupt, aus rein wirthschaftlichen Ursachen heraus zu erklären. Soviel aber ist sicher: die alt hergebrachte Ordnung der Gesellschaft durch die Kirche, oder besser gesagt, durch „die“ Kirche, welche nicht nur das Leben der Geister, sondern durch ihre Feiertage und ihren ausgedehnten Besitz auch das Arbeitsleben wesentlich beherrschte, schien in jenen Jahrhunderten vollkommen aus den Fugen gehen zu wollen, während sich gleichzeitig zur Rettung neue Welttheile mit unbekannten, unendlichen Aussichten eröffneten.

Kein Wunder daher, daß die Kirche ihre wankende Machtstellung durch Eroberungen auf neuen Gebieten zu stützen trachtete. Der Gedanke einer Weltchristianisierung durch die katholische Mission gewann gleichzeitig mit den gegenreformatorischen Bestrebungen Gestalt, und es fanden sich auch die Personen zusammen, welche der Verwirklichung dieses Gedankens ihr Leben verschrieben.

Schon ehe der Jesuitenorden seine Weltstellung gewann, war dieser Gedanke auch sonst da und dort aufgetaucht; es ist darum auch keineswegs ein Zufall, daß derjenige Mann, dessen Utopie nächst derjenigen von Morus das meiste Interesse in dem nächsten Zeitraum beanspruchen darf, ein kalabrischer Dominikanermönch war, Giovan Domenico, genannt Tommaso Campanella (1568 bis 1639). Dieser merkwürdige, an Schicksalen dem Odysseus ähnliche Mann hat zwar zeitlebens an den Lehren des Papstthums gezweifelt und von demselben auch viel zu leiden gehabt – aber sein 1611 niedergeschriebenes und 1620 veröffentlichtes Werk „Der Sonnenstaat oder poetischer Dialog über die Idee des Staates“ trägt doch so sehr das hierarchische Gepräge der katholischen Kirchenorganisation, daß die oberste Regierung im Sonnenstaat wie dort ausdrücklich in den Händen eines Priesterfürsten liegt. Die Schilderungen des gemeinsamen Lebens und Arbeitens erinnern auffallend an diejenigen des Klosterlebens, die Magistrate, zu welchen die in jedem Fache ausgezeichnetsten Menschen verwendet werden, sind zugleich Beichtväter.

Während bei Morus die Gemeinschaft der Güter nur in beschränktem Umfang und mit einem gewissen Spielraum für den Einzelwillen erscheint, ist bei Campanella die Gemeinschaft der Güter, Weiber und Kinder rücksichtslos durchgeführt. Der Einzelne ertrinkt hier förmlich in der Gemeinschaft; diese aber soll so stark auf die geistigen Kräfte der Individuen zurückwirken, daß die „Solarier“ – wie Campanella in einem eigenartigen Ausblick auf die Zukunft glaubt – ihr Alter bis auf zweihundert Jahre bringen, daß sie fliegen lernen, Pflüge mit Segeln, Schiffe dagegen ohne Segel zu lenken verstehen werden u. a. m.

So sehr aber der feurige Süditaliener in der Phantasie von seiner Zeit abschweifte, schon die bloße Thatsache, daß er in dem hinterlassenen Kommentare zu seinem „Sonnenstaate“ durch nicht enden wollende Citate aus der Bibel und aus der Legion der Kirchenväter seine Gütergemeinschaft zu belegen unternommen hat, beweist uns, daß die Wurzeln seiner Gedanken noch in der alten Welt lagen.

Die theokratische Wirthschaftsordnung, welche er dachte und beschrieb, trat gleichzeitig in die Wirklichkeit ein; was der katholische Dominikaner in Süditalien schrieb, das suchten katholische Jesuiten in Südamerika zu verwirklichen.

„Man wird“ – so sagt Gothein mit Recht – „den kühnen Dominikaner eher den Schriftstellern der Gesellschaft Jesu beizählen dürfen als den Scholastikern seines eigenen Ordens. Er traf mit den Jesuiten in dem gemeinsamen Bestreben zusammen, dem System der alten Kirche durch Aufnahme der für sie verwerthbaren Resultate der neuen weltlichen Bildung stärkere Stützen zu verleihen. Sein gewagter Ideenflug nahm oft eine andere Richtung, als die straff organisierte Jesuitenschule ihren Jüngern vorschrieb, schließlich aber trafen sich beider Gedanken immer wieder.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 298. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_298.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)