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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Polyxene griff hart in das Treppengeländer und sah den Mann an wie einen Feind. „Er ist dort verunglückt – Ihr habt ihn gefunden,“ sagte sie mit fremder ruhiger Stimme.

„Nein,“ entgegnete Dietlieb nur, anstatt die Annahme nachdrücklich abzuwehren, „nein – wir haben noch nicht ordentlich gesucht.“

„So kommt,“ sagte das Fräulein und schritt ihm voran, durch den Hinterhof unter einem offenen Schuppen hindurch, dessen thürlose hintere Einfahrt den Ausblick in den verwilderten alten Mühlgarten wie ein in Grün getauchtes Bild umrahmte. Ein Knecht hatte sich ihnen angeschlossen; Polyxene sah mit halbem Blicke, was ihr das Herz schwer wie einen Stein werden ließ: wie auf einen Wink Dietliebs dieser Bursche aus der Ecke des Schuppens ein paar große Stangen griff. Jetzt schritten sie durch das hier immer feuchte lange Gras, welches sich wie Schlingen um die Füße legte. Schattig und unhold war der Ort; an der geschwärzten Hinterwand des Schuppens unter dem tief herabreichenden Dachvorsprung wuchs der Schierling fast zu Mannshöhe; im Grase jagen mächtige alte Mühlwalzen, das Holz schwarz von der Zeit und von Feuchtigkeit, schleimig überzogen, schimmelnd, hier und da mit Pilz- und Schwammansiedlungen in dicken weißlichen Schuppen bedeckt. Und bedeckt mit allem, was schmarotzend ihnen die Lebenskraft und Fruchtbarkeit entziehen konnte, standen auch die matten Obstbäume da, die das Fleckchen so dunkel machten, obgleich die mächtigen Aeste, die sich schwer auf das vermorschende Dach des Anbaus legten, nur noch wenig rostiges Laub trugen.

Der Schnppen reichte bis nahe an das Ufer, und das Stückchen verwilderter Garten hinter ihm bildete eine vorspringende Landzunge, deren eine Seite der alte Mühlgraben, die andere eine unbedeutende Wasserrinne begrenzte, welche ehemals in besonderen Fällen dem Mühlwerk das Wasser gespendet hatte. Der Graben aber war hier voll, breit und an einzelnen Stellen tief und das Wasser hatte noch immer den mächtigen Zug der Stelle zu – wenig unterhalb des Schuppens – wo es früher die gewaltigen Mühlräder getrieben hatte, die jetzt stille standen und zerfielen. Und da war ein Platz am Ufer, wo der Steg hinübergeführt hatte, den, als er allzu morsch wurde, Polyxene hatte abbrechen lassen. An der Ufermauerung des Grabens befand sich ein Vorsprung, der dem Steg als Fundament gedient hatte. Hier hatte jedenfalls Lutz das Brett aufgelegt, auf welchem er, wie er neulich eingestanden, noch oft den zum Sprunge zu breiten Graben überschritt. Und da, sie hatte es längst gesehen, aber es nicht sehen wollen, bis sie dicht davor stand und sich überzeugen mußte, da ragte das eine Ende einer wassergeschwärzten schlüpfrigen Bohle auch jetzt in die Höhe; das kürzerr Ende nur; über die Hälfte lag sie im Wasser – sie war am andern Ufer abgeglitten.

Polyxene stand vor diesem Anblick lange stumm; es war, als ob jede um das Unglücksbrett herziehende Welle von dem Restchen Hoffnung, das ihr geblieben war, mehr unterspüle und hinwegnage. Dann aber raffte sie sich mit einem Male wieder auf. Die Bohle konnte erst abgeglitten sein, als der, der sie benutzt hatte, drüben ans Ufer sich schwang, das dort höher aufstieg. Der Zufall, daß sie im Wasser lag, brauchte nichts zu bedeuten, gar nichts. Und war es Lutz überhaupt gewesen? Warum nicht ebensogut einer der Knechte, der sich seinen Weg nach dem Acker hatte abkürzen wollen?

Das Fräulein hatte es vermieden, dem hinter ihr stehenden Manne, dem Dietlieb, wieder ins Gesicht zu sehen. Er hatte sie hergeführt, er hatte vorher schon gewußt, wie sie das Uebergangsbrett finden würden; sie wollte nicht Gewißheit haben über seine Gedanken. Endlich aber mußte sie sich doch zu ihm umwenden. Da schaute er aber nicht sie an; sondern blickte so sonderbar neben ihr weg auf den Boden. Sie folgte seinen Augen und gewahrte nun erst im Grase nahe am Ufer Lutzens wohlbekannte Jagdtasche. Nun wußte sie alles! Eine starre Ruhe überkam sie. Sie bückte sich, nahm die kleine alte Jagdtasche auf und strich liebevoll darüber her; sie bückte sich noch einmal und sah mit aufmerksamen trockenen Augen die Stelle im Grase an, auf der sie gelegen hatte, und blickte dann hinüber nach dem anderen Ufer, als müsse von dort das helle heitere Knabengesicht ihr zugeschaut haben und sie nun über ihre thörichte Angst auslachen, Dietlieb aber mochte glauben, daß er nun nichts mehr zurückzuhalten brauche. Er trat neben das Fräulein dicht ans Ufer und sagte, mit dem Kopfe hinüber auf die glatt ansteigende Böschung deutend: „Seht, wie dort drüben das Gras ausgerissen ist, als ob sich einer daran hätte halten wollen. Da, den Streif hinunter, da ist die Bohle heruntergeglitten. Aber rechts davon, zur Seite oben, seht Ihr die Stelle? Da sind ganze Büschel Ufergras losgearbeitet. Und wenn er dort hinabgerutscht ist – der Graben hat ein paar Löcher hier herum und ist da über mannstief – ein Erwachsener könnte sich schwer heraushelfen . . .“

„Der Junker Ludwig war kräftiger und gewandter als mancher Mann.“ Polyxene hatte es gesagt fast unwillig; plötzlich entsetzte sie sich über ihre eigenen Worte. „War!“ Sagte man das von einem Lebenden? Hatte durch ihren eigenen Mund ohne ihre Absicht eine Prophezeiung gehen müssen, vor der es ihr selber graute?

Dietlieb schüttelte den Kopf. „Des Schwimmens war er nicht kundig“ – auch er fiel in diese Redeweise! – „und es hätte ihm nicht einmal viel geholfen. Das Wasser zieht hier stark . . . und wenn er sich etwa beim Abrutschen verletzt hatte . . . Wenn wir ihn nur finden,“ murmelte er noch, „ehe der Graben in die überwölbte Rinne einläuft. Denn da heraus kommt so leicht nichts wieder ans Tageslicht. Hierher, Klaus!“ Er nahm dem Knechte die eine Stange ab. Dann mochte ihm etwas einfallen und er wandte sich zu Polyxene. „Geht lieber, Fräulein,“ sagte er gutmüthig überredend. „Dies ist nichts für Euch zum Zusehen.“

Polyrene verließ zögernd den Grasgarten. Dietlieb hatte recht – dabeizustehen, wenn die Männer ihre Stangen in jene verhängnißvollen Löcher des Grabengrundes stießen, wenn sie dann stockten, sich ansahen und nun angestrengter arbeiteten, um etwas, was sie da unten gefühlt hatten, zutage zu fördern – es wäre schwer zu ertragen gewesen. Aber das Fräulein ging nicht weit. Sie verweilte im Hofe und warf von dort scheue Blicke durch den viereckigen Rahmen der Durchfahrt in das Grün dahinter. Das Plätzchen war bisher die Stätte so friedlicher Erinnerungen gewesen. Als Lutz noch ganz klein war und sie ein halbwüchsiges Mägdlein, da hatte sie den Buben dort bei sich gehabt und gehütet, während sie dicke Vergißmeinnichtkränze wand Und obwohl er sonst wild war, dies Kränzebinden hatte ihn lebhaft mitbeschäftigt und sehr artig gemacht. Er hatte ihr dann die Blumen ausgerauft, ungeschickt, mit allzu viel Gras dazwischen, und sie in den dicken Händchen herbeigebracht. Noch vor wenigen Monaten, als die Frau Pfalzgräfin besonders gnädig gelaunt gewesen war, im Zirkel nach der Erbauungsstunde, da war auf jene Vergißmeinnicht die Rede gekommen, von denen einmal die kleinen Leyens dem verstorbenen Gemahl der Fürstin zu seinem Namenstag eine kunstvoll gewundene Kranzspende dargebracht hatten, den hochseligen Herrn herzlich damit erfreuend. Polyxene, ihre Gedanken ziellos zurückwandern lassend, erinnerte sich, wie sie bei jener Gelegenheit im Damenzirkel auch eine Beschreibung eben dieser ihr jetzt so fürchterlichen Stätte gemacht habe, und mit schmerzlichem Staunen über sich selber dachte sie jetzt an die Unbefangenheit, mit der sie damals noch von der gefährlichen Tiefe des Mühlgrabens aller Welt heiter vorgeplaudert hatte.

Ruhelos schleifte Polyxene die müden Füße auf dem Hofe umher. Der Durchgang, durch den die Männer zurückkommen mußten, hielt sie in einem qualvollen Banne, Die Angst litt nicht, daß sie sich allzu weit davon entfernte, das Entsetzen vor dem, was erscheinen konnte, nicht daß sie allzu nahe kam.

Der gewölbte Kanal, von dem Dietlieb gesprochen hatte, nahm den Graben hinter dem ehemaligen Mühlwerk auf und führte ihn unterhalb des Hofes fort. Es war dieser Kanal auch ein Werk der betriebsamen und kundigen Kugelherren; man fand seinesgleichen damals noch wenig, die geistlichen Herren aber waren gute Tiefbaumeister gewesen. Und dann gab es im alten Mühlbau, im Kellergeschoß, einen Ort, da sah man das Gewässer wieder, dicht vor sich und kaum spannbreit unterhalb der eigenen Augen, mit denen man durch eine Kellerluke schaute. Und zugleich sah man da, ebenfalls in nächster Nähe, den dunkeln Gewölbebogen, unter dem das Wasser hinlief, um erst jenseit des Gartens am Herrenhaus wieder ans Tageslicht zu kommen und nun schlecht und recht wie ein anderer Vach zwischen wechselnden Ufern ins Land hinein weiter zu fließen, Jenes Fensterloch im Kellerraum der Mühle hatte von jeher eine geheime Anziehungskraft, aber von der schauerlichen Art, für die Kinder gehabt. So, wie beschrieben, war es bei gewöhnlichem Wasserstand; nun aber erst bei niedrigem! Schwellten Frühjahrs- oder Herbstgüsse den Graben übervoll, dann stand das Wasser in jenem Keller und er war unzugänglich. In

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 296. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_296.jpg&oldid=- (Version vom 13.11.2023)