Seite:Die Gartenlaube (1893) 294.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

so wurde ihm ein Imbiß und ein Krug Wein vom Tische, an dem seine beiden Mündel dann allein saßen, hineingeschickt. Wahrscheinlich dachte er heute, als er sich von einem Globus umwendete, an dem er mit dem Zirkel Messungen vorgenommen hatte, daß es sich um diese Unterbrechung handle. Er nickte nur flüchtig nach der eingetretenen Person hin und fuhr in seiner Arbeit fort – ein seltsamer Anblick für den, der seiner nicht gewohnt war: der hagere Mann, dessen lange dürre Finger sich noch fortzusetzen schienen in den zwei Schenkeln des Meßinstrumentes, über welches er das ernsthafte gelbe Gesicht neigte; spitz alles an ihm, spitz die Ellbogen, spitz das Kinn und beinahe nadelspitz und dünn unten am Kinn das kohlschwarze Bärtchen.

Jetzt aber wurde er angeredet, und zwar durch Polycenens Stimme. „Wollt Ihr nicht zu Tische kommen, Oheim?“ fragte sie.

„Ja, ja,“ sagte er wie abwesend und fuhr fort, den Zirkel gleich einem phantastisch stelzbeinigen Geschöpf große Schritte über den Globus machen zu lassen. Erst nach einigen Minuten merkte er, daß Polyxene noch da war. „Ihr konntet ja unterweilen ohne mich anfangen,“ sagte er etwas ungeduldig, legte nun aber doch sein Instrument zusammen. Getrieben und gestört zu werden, war er nicht gewohnt, am wenigsten von dieser seiner Nichte, die er deswegen auch für ein verständiges Frauenzimmer zu halten geneigt war.

„Ich bin allein, Oheim,“ sagte Polymelie darauf. „Lutz ist noch nicht zu Hause. Wißt Ihr, wo er stecken mag?“ Es brach bei ihren letzten Worten eine leise Unruhe durch, welche das Fräulein auch endlich in das Zimmer des Oheims geführt hatte, nachdem sie eine Weile in dem großen Eßzimmer mutterseelenallein auf ihre beiden sonstigen Gefährten gewartet hatte.

„Nein; wie soll ich wissen wo der Bursche sich herumtreibt,“ erwiderte der Oberst. „Sehr ungehörig aber von ihm, die Stunde der Mahlzeit nicht einzuhalten!“ Damit reichte der alte Herr von Gouda seinem Mündel mit großer Würde den Arm, um sie in den Speisesaal mit den vielen Wappen zu führen. Polyxene hatte auf seine letzten Worte geschwiegen, weil sie den Vetter diesmal nicht zu vertheidigen wußte.

Die beiden speisten also allein, das heißt, sie nahmen an dem alten geschonten damastenen Tafeltuch und von werthvollem, zum Theile silbernem Geschirr einen einfachen aber anständigen Imbiß zu sich, der hauptsächlich aus kaltem Wildbraten, Brot und Wein bestand. Das Fräulein horchte und schaute fortwährend nach der Thür, denn sie konnte sich Lutzens Ausbleiben je länger je weniger erklären. Ja, wenn sie nicht vorhin selber in der Küche gewesen wäre und von der alten Wirthschafterin erfahren hätte, daß der Junker nicht etwa zwischendurch der Speisekammer einen Besuch abgestattet habe, wie er zuweilen pflegte und besonders jedesmal, ehe er eine Streiferei in den Wald antrat! Aber er hatte sich seit zwölf Uhr, der Stunde des Mittagsmahles, im Hause nicht mehr blicken lassen. Polyxene nahm sich vor, ihn sehr ernstlich zu schelten, sobald er heimkomme.

Es war unter diesen Umständen bisher ziemlich still am Tische gewesen, da begann der Oberst: „Heute mittag war ein Besuch für Dich hier, Nichte.“

„Für mich?“ sagte Polyxene verwundert. „Frau von Biberen vielleicht?“ – Das gute Fräulein von Motz war schon zwei Tage nach der Jagd draußen in der Herrenmühle gewesen und hatte ihrer Freundin Polyxene eifrig vertraut, wie sehr der ganze Hof sich durch das Benehmen der Pfalzgräflichen Hoheit verletzt gefunden habe. „Die Obersthofmeisterin sagt, sie wasche ihre Hände von allem, was bei Hofe geschehe,“ hatte das kleine runde Fräulein mit dem kurzen Näschen versichert, „seit gewisse Leute ohne Rang und Charge sich einer nie erhörten Bevorzugung erfreuen. Und weißt Du, Polyxenchen, wie Frau von Biberen diese Person, diese Méninville, nur noch nennt: der Frau Pfalzgräfin bösen Engel! Die Biberen ist ja selber ein wenig scharf, wie wir alle wissen, aber sie ist ehrlich. Sie hat öffentlich Deine Partei genommen, vor den Ohren dieser ... dieser Méninville – so lieb ich Dich habe, Polyxenchen, soviel hätte ich mir nicht herausgenommen – und sie wird Dich besuchen; sie hat es laut vor aller Welt gesagt.“

„Nein, nicht Frau von Biberen,“ antwortete indessen der Oberst, „überhaupt kein Frauenzimmer.“ Polyxeue war wie in leisem Schreck innerlich zusammengefahren bei den letzten Worten. Jetzt aber blickte sie in gleichmüthigem Befremden auf als ihr Vormund hinzugefügt hatte: „Zwei geistliche Herren; der Dekan von St. Aloysius und sein Kaplan.“

„Was wollten die Herren von Euch, Oheim?“ fragte sie.

„Von mir? Nichts! Wie ich schon einmal bemerkte, galt der Besuch Euch, dem Fräulein von Leyen,“ erwiderte er in seiner pedantischen Art.

„Mir? Wie wunderlich!“ sagte Polyxene. Die Sache war in der That so wunderlich, daß sie es für jetzt aufgab, eine Erklärung dafür zu finden, Allerdings war die Herrenmühle mit ihren Bewohnern in St. Aloysius, der stattlichen Jesuitenkirche der Residenz Birkenfeld, eingepfarrt. Da aber der Weg weit war, so pflegte Polyxene zur Messe und zur Beichte in das Siechenhofskirchlein draußen vor dem Brunnenthor, dahin sie es am nächsten hatte, zu dem guten alten Pfarrer Wehrbein zu gehen. Allzu oft geschah es nicht; die Religionspraxis wurde dazumal in Birkenfeld überhaupt ziemlich lau betrieben, wenigstens bis vor kurzem noch. Den Dekan, Pater Antonius Zindler, ihren eigentlichen Seelsorger, kannte daher das Fräulein kaum, und so brachte sie es jetzt nicht einmal zu einer Vermuthung über den möglichen Zweck seines Besuches.

Der Oheim hatte darüber auch nichts weiter gesagt, blieb aber noch bei seinem Weine sitzen, länger als gewöhnlich. Das war Polyxenen lieb, Lutzens wegen, der sie hoffentlich beide noch bei Tische fand, denn er mußte ja jetzt bald kommen. „Erfuhret Ihr von den Herren nicht, was ihr Geschäft hier war?“ fragte sie nach einer langen Weile, nur um das Gespräch noch zu fristen und den Obersten dadurch womöglich länger am Tische zu halten.

„Nicht ein Wort,“ sagte Herr von Gouda mit einer gewissen trockenen und unparteiischen Beifälligkeit, die hier etwa bedeutete: ja, erfahre du von einem Jesuiten, was er nicht sagen will! „Dagegen hatten sie vor, von mir dies und jenes sich mittheilen zu lassen. Es ist aber nicht viel damit geworden, Zum Beispiel begehrten sie von mir zu wissen, wohin Ihr heute Euren Weg gerichtet hättet. Und dann: ob Ihr häufig hinauf gen Keula ginget? Ob der Heidenkopf sich nicht Eurer besonderen Vorliebe erfreue? Ich bin den Herren auf ihre Fragen die Antwort schuldig geblieben. Einmal, weil ich nicht abzusehen vermochte, was die hochwürdigen Herren an allen diesen Dingen zu kümmern habe. Und fernerhin: alldieweilen ich mich in einer völligen Unkenntniß über die beregten Punkte befand.“

Polyxene schüttelte nur in neuer Verwunderung leise den Kopf; sie wußte nichts aus der ganzen Sache zu machen, hatte heute aber auch keinen rechten Sinn dafür. Als der Oberst jetzt Miene machte, den Tisch zu verlassen, erhob sie sich rasch: „Soll ich Euch die Pfeife hierher holen, Oheim?“

Hierher, in das Eßzimmer. die langstielige Thonpfeife, die er allabendlich mit großem Gusto zu schmauchen pflegte, sein Museum ganz erfüllend mit jenem von vielen dem Höllenbrodem gleichgeachteten Qualme des damals noch kaum eingebürgerten virginischen Krautes! Hierher, von wo dann der Tabaksrauch durch die vielen Thüren in das ganze Haus dringen, sogar in die profanen Nasen der beiden Dienstboten steigen würde!

„Was ficht Euch an, Nichte?“ meinte der Oberst, Polyxene abfällig ansehend, als habe sie ihm eine Entweihung seines abendlichen Rauchopfers zugemuthet.

„Es ist nur,“ sagte sie und trat ihm näher, wie in einer Regung von Hilflosigkeit „daß Lutz immer noch ausbleibt! Was dünkt Euch davon, Oheim?“

Sie wollte nicht allein bleiben mit ihrer Angst, deren sie sich jetzt nicht mehr erwehren konnte. Ludwig war dreist und sorglos, ja tollkühn; wenn ihm ein Unfall zugestoßen war! Die Dunkelheit war längst hereingebrochen; auf dem Tische brannten ein paar Kerzen. So beträchtlich hatte sich der Knabe noch nie verspätet.

„Er wird schon kommen,“ entgegnete Herr von Gouda gleichmüthig und verfügte sich nach seinem Gemache.

Lutz kam aber nicht. Nicht an jenem Abend, nicht in der Nacht, welche die Bewohner der Herrenmühle sämtlich in mehr oder minder großer Unruhe verbrachten, und nicht am andern Morgen. Polyxene hatte sich gar nicht entkleidet. Es war ihr, als könne sie gar nichts anderes thun als am Fenster stehen, versuchen, die Dunkelheit draußen mit ihren heißen Augen zu durchdringen und horchen, horchen. Von Müdigkeit überwältigt, setzte sie sich gegen Morgen auf ihr breites Bett und legte den Kopf aufs Kissen, fest entschlossen, nicht einzuschlafen und den ersten Laut jenes kräftigen Knabenschrittes zu vernehmen, nach

dem sie sich so unaussprechlich sehnte. Ja, sie wußte, sie mußte

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 294. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_294.jpg&oldid=- (Version vom 30.10.2020)