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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

kann, wenigstens nichts auf dem Gebiet des Romans. Sie erinnern sich der Anfangsworte von Byrons ‚Don Juan‘?“

„I want a Hero?“

„Das ist genau mein Fall: mir fehlt es an einem – sagen wir: dem Helden.“

„Ich gestehe zu meiner Beschämung, das abermals nicht zu verstehen.“

„Da ist nichts zu schämen, gnädige Frau, so wenig als daß Sie das schmucke Boot da nicht zu steuern verstünden. Es legt eben um und scheint hierher zu wollen. Es wird bei dem Winde noch ein paar Schläge machen müssen.“

„Ich glaube, Sie sind unter anderem auch Seemann?“

„So ein bißchen davon. Ich bin ja an der Küste dieses Meeres groß geworden.“

„Ich weiß; aber bleiben wir bei unserem Thema! Es interessiert mich zu sehr. Was ist das mit dem Helden, den Sie ja, wie ich wohl begreife, zu einem Roman haben müssen und den Sie nicht finden zu können behaupten, was ich nicht begreife. Das scheint mir doch verhältnißmäßig das Allerleichteste.“

„Unter Umständen ja, wenn er mit der Idee, wie es wohl geschehen kann, zusammen geboren und eins mit und untrennbar von ihr ist. Die Sänger der Ilias und der Odyssee sind gewiß nicht um ihre Helden verlegen gewesen. Auch Cervantes, wenn er das abgelebte Ritterthum und die schwulstigen Abenteuerromane verspotten wollte, hat sicher nicht lange nach dem edlen Manchaner zm suchen brauchen, wobei ihm der Ruhm, im Finden und Erfinden dieser Gestalt eine der allergrößten dichterischen Thaten vollbracht zu haben, unbestritten bleiben soll. Um das Stück Welt zu sehen, das diese und andere Dichter schildern wollten, gab es, sozusagen, nur dies eine Fenster. Aber so einfach liegt die Sache nicht immer. Es kommen Fälle, in denen das Weltfragment, welches der Romandichter seinem Leser vorzuführen gedenkt, sehr kompliziert ist, so daß es schwer hält, es von einem Standpunkte zu überblicken; oder um ein anderes Bild zu brauchen: der Strom seiner Dichtung ein an Quellen besonders reiches Gebiet durchläuft, die doch alle in das eine Strombett geleitet sein wollen, wenn ein für die Phantasie überschauliches Ganzes, d. h. ein Dicht- und Kunstwerk, daraus werden soll. Die Bürgschaft aber, daß es ein solches wird, kann einzig und allein der Held übernehmen. Er und er allein sorgt dafür, daß die Phantasie sich nicht ins Grenzenlose verläuft – eine Gefahr, die für keinen Dichter so groß ist wie für den epischen. ‚Melde den Mann mir, Muse, den Vielgewandten‘ – sehr schön! aber: ‚der vielfach umgeirrt, als Troja, die heilige Stadt, er zerstöret; vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat‘ – da fängt die Gefahr für den Sänger an: die Gefahr, daß er die Geister, die er rief, nicht wieder los wird und vor all’ den Städten all’ der Menschen, die sein Held gesehen und die er uns nun auch sehen lassen möchte, den Helden aus den Augen verliert, und daß so statt der Odyssee eine Art ‚Voyage du jeune Anacharsis en Grèce‘ zustande kommt – sehr lehrreich zu lesen, aber nur bei Leibe kein Dichtwerk.“

„Und davor schützt den Dichter der Held?“

„Ich wiederhole: er einzig und allein. Mit ihm fängt der Roman all, mit ihm endet er. Was vor seinem Auftreten etwa geschieht, ist gewissermaßen nur Präludium; was, nachdem er abgetreten, Nachklang und Nachspiel. Er ist das Centrum, welchem innerhalb der Peripherie alles zustrebt; er ist auch der Radius, welcher den Umfang der Peripherie bestimmt. Wer und was nicht mit dem Helden in irgend einem Zusammenhange steht, gehört nicht in den Roman, und dieser Zusammenhang darf nicht zu entfernt sein, oder der Roman verliert in dem Maße der Entfernung an Uebersichtlichkeit und mit der Uebersichtlichkeit an Schönheit.“

„Und dieser Allerweltsmann von einem Helden fehlt Ihnen für Ihren Roman?“

„Leider.“

„Und Sie können, bis Sie ihn haben, nicht anfangen?“

„Nicht eine Sekunde früher.“

„Ja aber, was ist da zu thun?“

Ich zuckte die Achseln.

„Geduld haben, gnädige Frau, und fromm sein. Den Frommen soll es ja der Herr im Traume schenken. – Sie brechen auf?“

„Mein Fräulein ist krank; ich muß einmal nach meinen Kindern sehen.“

„Und ich hatte mich so auf den obligaten Nachmittagsspaziergang gefreut!“

„Aus dem wird wohl heute nichts werden. Vielleicht eine Abendpromenade am Strande. Inzwischen schlafen Sie vielleicht ein Stündchen. Es ist von wegen des Traumes, wissen Sie – des Traumes vom Helden!“

Die schöne Frau hatte ihre sieben Nähsachen in das Körbchen zusammengepackt, das Körbchen in die Hand genommen und mit einem freundlichen Lächeln zu mir und einem anmuthigen Nicken des Kopfes gegen die übrige Gesellschaft die Halle verlassen.

Die Gesellschaft war inzwischen ziemlich zusammengeschmolzen; von denen, die geblieben, gehörte keiner zu meinen näheren Bekannten; so mochte ich ruhig auf meinem Platze verbleiben. Das Gespräch, das ich mit der schönen Freundin geführt hatte, ging mir weiter durch den Kopf. Welcher Genuß war es doch, mit einer klugen Frau über diese Dinge sich zu unterhalten! Wie hatte sie alles so mühelos verstanden! Wenn ich jetzt einschlief – müde genug war ich – und mir der Himmel im Traum meinen längst ersehnten Helden schenkte – mein Verdienst würde es nicht sein; nur, weil die liebe Heilige für mich armen Sünder gebeten!

Während ich so, wirklich halb träumend, dasaß, war das Fahrzeug, auf das ich vorhin ihre Aufmerksamkeit gelenkt hatte, näher gekommen. Daß es keines der gewöhnlichen Fischerboote von hier oder Ahlbeck war, hatte ich längst gesehen. Es erinnerte mich in seinem Bau und seiner Takelage an den Regierungskutter, auf dem ich mit meinem verstorbenen Vater seiner Zeit so manche schöne Fahrt auf den pommersch-rügenschen Gewässern gemacht hatte. Und jetzt war es so nahe, daß ich durch den Krimstecher, den ich selten auf dem Zimmer ließ, die Flagge erkennen konnte: ein Lotsenbot, und dann vermuthlich das des Kommandeurs. Nun brauchte ich nicht länger mit meiner Müdigkeit zu kämpfen; eifrig beobachtete ich jedes Manöver des Kutters, der sich im Zickzack vollends herankreuzte und jetzt, immer noch in einiger Entfernung vom Ufer, die Segel reffte und den Anker fallen ließ. Dann wurde die Jolle längsseit geholt, ein Mann in Uniform – jedenfalls der Herr Kommandeur – bestieg sie, betrat nach wenigen Minuten die Landungsbrücke und kam, als er den Strand erreicht, geradeswegs auf das Kurhaus zu, begleitet von ein paar Herren, die


Ein wanderndes Haus in New-York.
Nach einer Augenblicksaufnahme von W. F. G. Geiße in New-York.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 269. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_269.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)