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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

war düster und wild hier unten; Bäume und Gesträuch, oben am Rande der Schlucht wachsend, verdunkelten sie noch mehr. Polyxene strebte darin aufwärts, bis die Wände sich weiteten; kahles scholliges Erdreich jetzt, so alles Pflanzenwuchses bar, als hätte hier ein Fluch es versengt. Enttäuscht schickte sie die Augen in die nun wieder frei werdende Weite. Wo war jene Hütte? Da zog eine Unregelmäßigkeit des Bodens ihre Blicke auf sich. Das war etwas wie ein Steinhaufen und – Polyxene sah schärfer hin – kein Zweifel: Menschenhände waren hier im Spiel gewesen, so formlos auch der Klumpen aus der Ferne aussah! Näher kommend, unterschied sie Gemäuer und Lehmwände, die in ihrer Färbung kaum vom Boden rings umher abstachen; allem Anschein nach das Elendeste, Baufälligste und Verwahrloseste, was je noch für eine menschliche Wohnung hatte gelten können. Wie ein in allem Wechsel ausharrender Freund stand ein alter Birnbaum daneben, der einzige Baum weit und breit. Und Baum und Hütte so beieinander hatten etwas Ergreifendes in ihrer Verlassenheit.

Das Fräulein erbangte plötzlich, als sie nun ganz nahe bei der Hütte war. Wie, wenn diese wüstem Gesindel zum Aufenthalte diente anstatt derjenigen, welche sie suchte! Wie öde sah alles hier aus! Doch jetzt bemerkte sie an der Längswand des Hauses ein kleines Fenster. Dasselbe gemahnte an ein offenes freundlich blickendes Auge – als ob etwas drinnen sei, was der elenden Hütte Leben verleihe wie die Seele dem Leibe, Entschlossen öffnete sie den Holzriegel an der Thüre, der zwar außen vorgeschoben, aber auch von innen zu bewegen war.

Ja, sie war am Ziele! Ehe der zaudernde Fuß sie einen Schritt weiter trug, nahm sie rasch in sich auf, was der erste Blick umfaßte. Nun, die wüste Höhle, auf welche das Aeußere der Hütte hinzudeuten schien, war der Raum, den sie hier vor sich hatte, nicht, wenn auch die größte Dürftigkeit ihn bewohnte. Offenbar enthielt das Haus nur dieses eine Gelaß; Tisch und Stuhl standen ordentlich da und ebenso das wenige von schlechtem Kochgeräth, das um die geschwärzte gähnende Feuerstelle seinen Platz hatte. Das Hauptstück des Gemachs war ein hochpfostiges Bett, massiv, wie aus besserer Umgebung hierher verpflanzt. Vorhänge von grobem blaugewürfelten Zeug, die an den Pfosten herabhingen, brachten einen entfernten Anklang von etwas wie Behagen in das Ganze.

Und von dem schlechten Kopfkissen schauten aus einem abgezehrten Gesicht die Augen der Bewohnerin der Hütte der Besucherin ruhig entgegen. Einen Blick nur hatte das Fräulein auf dies Gesicht geworfen, da sah sie sonst nichts mehr. All die unheimliche Oede, welche diesen Fleck umgab, der nackte Mangel, der hier herrschte, die Niedrigkeit und Verlassenheit waren wie ausgelöscht vor dem unerklärlichen Ausdruck, der auf dieser Stirne thronte, aus diesen eingesunkeneu Augen sprach. Keine Verwunderung war in dem Gesicht der bresthaften Frau zu lesen bei dem Besuch, der ihr doch hätte überraschend kommen müssen. Als Polyxene jetzt scheu näher trat, da sagte jene, einen glänzenden Seherblick auf das helle Antlitz vor sich heftend: „Ich horchte und hörte Euren Schritt, der Euch eben am Fenster vorübertrug. Und als Euer Schatten einen Augenblick diesen Raum verdunkelte, da wußte ich, wen Gott mir endlich schickte. Angekündigt seid Ihr mir schon lange, Polyxene von Leyen.“

„Durch den Strieger?“ fuhr es dem Fräulein heraus. „Warum hat er mir denn nicht früher von Euch gesprochen?“

Die Frau betrachtete sie indessen mit einem eigenen Blick stiller prüfender Aufmerksamkeit, „Nein, nicht durch ihn,“ sagte sie jetzt. Und dann, als wäre das, was nun kam, das Einfachste und Natürlichste von der Welt: „Durch ein Gesicht in der Nacht, wie mich deren der Herr zu Zeiten würdigt, seid Ihr mir gezeigt worden, so wie ich Euch jetzt vor mir sehe. Nur Euer Antlitz hatte der Herr vor mir verschleiert; so sehr ich mich bemühte, ich vermochte es nicht klar zu schauen. Jetzt erkeuue ich die Augen, die mich da wie durch einen Schleier anblickten; seltsam, denen Eurer Mutter gleichen sie nicht.“

Da war Polyxene mit einem Male dicht an dem Bette, von dem die Scheu der Edeldame vor der zu nahen Berührung mit der Niedrigkeit sie bisher noch zurückgehalten hatte. „Ihr seid in Diensten meiner lieben theuren Mutter gewesen,“ sagte sie rasch und drückte die flachen Hände gegeneinander vor Inbrunst bei dem Namen. „Ihr werdet mir von ihr erzählen? Thut es, ich bitt’ Euch! Wie nenn’ ich Euch? Wenn Ihr einer Stärkung bedürft – ich habe Wein mitgebracht und Brot ...“

Polyxene von Leyen war nicht gewohnt, Almosen auszutheilen, und fühlte sich fast verlegen dabei. Und als die Frau jetzt sagte: „Vermögt Ihr die Noth eines Armen Euch vorzustellen? Hättet Ihr das gute Herz Eurer Mutter? Dann ist Euch viel auferlegt in diesen Zeiten und Ihr könnt mich fast dauern,“ da wurde sie roth vor Beschämung.

„Euren Wein und Euer Brot brauche ich nicht,“ fuhr die Bewohnerin der Hütte fort, mit einer Stimme und in einem Tone jedoch, welche dieser Zurückweisung jeden Stachel nahmen, „aber Ihr braucht etwas von mir, Was es ist, weiß ich noch nicht – ich warte, daß es der Herr mir offenbaren wird. Aber da er Euch mir ankündigte, gab er mir zugleich das innere Wissen einer Noth, in der Ihr Euch befindet oder in die Ihr kommen würdet.“

Das war eine Sprache, die das Fräulein von Leyen kaum verstand. Ueberhaupt, wie überwältigend seltsam war dies alles! Das kranke Weib da vor ihr redete nicht, wie das rohe und geringe Volk es zu thun pflegte. Ihre Ausdrucksweise war die der bessern Stände, ja es war die derjenigen, welche mit dem gedruckten Worte verkehrten, nur ohne ihre Steifheit und gelehrte Verbrämung. Und sie selber, die dalag wie an das Bett gewachsen, war mit niemand, weder mit Mann noch Weib, die Polyxene je gekannt hatte, zu vergleichen. Das Fräulein hätte kaum zu sagen gewußt, ob jene Frau alt sei. Eine Sieche war sie; ihr dünnes Haar lag fahl und farblos an den eingefallenen Schläfen. Das abgezehrte Gesicht trug den Zug des Leidens, ja den des Todes. Die Hände, gelblich, blutlos, schienen gichtisch verkrümmt. Aber auf der blassen Stirn stand ein anderes Wort als Leiden, da stand: Sieg! Nicht die Mattigkeit des Alters, sondern das Licht einer zeitlosen Jugend wohnte in den Augen unter den scharfen Bogen; eine unbeschreibliche Feierlichkeit lag über der ganzen Gestalt, etwas von jener fast triumphierenden Ergebung, welche die Hände den Fesseln und der Schmach entgegenstreckt und sie trägt, als wären es goldene Ehrenketten.

Während Polyxene noch schweigend stand, der Empfindung dieses Fremdartigen und Neuen ganz hingegeben, betrachtete die Frau sie wieder und murmelte dann mit einem Male: „Gott verzeihe mir, an mich und das Meine habe ich gedacht mehr als an Euch, Kind. Ihr wollt von Eurer Mutter hören, die Euch allzufrüh verließ ... Ihr wißt wenig von ihr?“

„So klein ich war, als sie starb, ich erinnere mich ihrer,“ sagte Polyxene. „Und Ihr habt ihr gedient? Sie war gütig gegen Euch?“ fuhr sie flehentlich fragend fort.

„Sie konnte nicht anders sein als gütig; sie war in dem, der die Güte selber ist und er war in ihr,“ antwortete die Kranke. „Der Heiland hatte sein Bild in ihr schon frühe zu besonderer Herrlichkeit vollendet. So hat die Zeit der irdischen Arbeit auch nicht lange für sie zu währen gebraucht ... sie durfte früh von hinnen gehen, während wir andern unter Mühe und Schweiß zurückblieben.“

Welche Sprache, in der es bei aller Ueberschwänglichkeit der christlichen Empfindung zugleich durchklang wie völlige Gleichstellung von Herrin und Dienerin vor dem Allerhöchsten, vor Gott! Und doch wurde der sonst so wache Stolz des Fräuleins durch das, was sie vernahm, nicht beleidigt. Und wie sie so stand, fielen ihre Augen mit Erstaunen auf einen Gegenstand, der in einer viereckigen kleinen Nische der Wand neben dem Bette lag, zu Händen der Kranken, wenn diese die Arme hätte heben können. Es war ein altes kleines, aber dickleibiges Buch in braunem Ledereinband. Bücher hatten Anziehungskraft für Polyxenen, wo sie sich auch fanden. Die Augen der Kranken, mit jenem klaren, ruhig eindringenden Blick für die Außenwelt begabt, der sich gerade mit der Loslösung des innern Menschen von allen irdischen Wünschen zusammenfindet, hatten wieder auf dem Fräulein geruht und sie sagte jetzt: „Ihr wundert Euch, die Nahrung der Weisen und Gelehrten zu finden in dieser Hütte des Elends. Aber Ihr kennt jenes Buch nicht. Nicht die Klugheit der Klugen will es nähren, sondern die Thorheit der Einfältigen. Es ist ein kostbares Werkzeug Gottes geweseu und hat die Arbeit des Herrn an vielen Seelen gethan. Ja, nehmt und betrachtet es! Ich kann es nicht mehr erreichen mit meinen Händen, wenn es dort liegt –“

„Eure Arme sind gelähmt?“ flüsterte Polyxene, ehe sie über das Bett hinüber nach dem Buche griff, mit einem Schauer von Mitleid und Schrecken.

„Ja, der Herr hat seinem bösen Engel Macht gegeben, mich zu binden mit starken Ketten des Siechthums. Fester und fester werden sie um mich geschnürt, und in der Nacht sitzt der Widersacher gekauert dort in der Ecke; sogar bis auf den Bettrand hier ist er schon gekommen, um sich grinsend an meiner Ohnmacht zu weiden. Gott hat mich so tief gedemüthigt in diesen letzten Zeiten

noch, daß ich wähnte, jenem verfallen zu sein und vom Herrn

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 264. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_264.jpg&oldid=- (Version vom 12.10.2020)