Seite:Die Gartenlaube (1893) 221.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Nr. 14.   1893.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Schwertlilie.

Roman von Sophie Junghans.
1.

In dem Gartensaale im Flügel des pfalzgräflich Birkenfeldschen Schlosses waren die Glasthüren weit geöffnet. Draußen auf dem großen Kiesplatz, den hohe glattgeschnittene Taxushecken gleich Wänden einfriedigten, lag eine milde Septembersonne. Eben knirschte der Sand unter dem kräftigen Tritte eines hochgewachsenen Herrn; dieser kam quer über den sonnigen Platz und betrat über die flache Treppe von wenigen muschelförmig weit geschwungenen Stufen den Gartensaal, als ob er rasch hindurch wollte. Er stockte aber, sah sich um und wieder um und zog dann die geraden Brauen mit einem belustigten Frageblick in die Höhe.

„Was giebt’s denn hier Wendel?“ sagte er zu dem ältlichen Manne in dunkler Hausoffiziantenlivree, der eben die Einrichtung des Raumes vollendet zu haben schien.

Der Haushofmeister der Pfalzgräflichen Hoheit kam mit devotem Dienerschritt heran, um dem Kavalier Rede zu stehen. Er schien es nicht ungern zu thun: das schöne, heitere, vornehm sorglose Antlitz des jungen Herrn mit dem gutmüthig spöttischen Zug unter dem dunklen Bärtchen verrieth einen Mann von der Art, der das Vertrauen und die Ergebenheit der Dienerschaft gewiß niemals zu fehlen pflegt.

„Die Frau Obersthofmeisterin hält die Lesestunde,“ erklärte Herr Wendel und machte eine Pause, während die Blicke beider noch einmal über die beiden halbkreisförmigen Doppelreihen der weißen geschweiften Sessel mit den etwas verblichenen Seidenbezügen flogen. Aber auch Tische waren in gewissen Abständen zwischen die Sessel vertheilt, und auf diesen Tischen standen Körbchen mit Garnknäueln und lag allerlei weibliches Handarbeitsgeräth. Neben demjenigen Armstuhl, welcher eine Art Ehrenplatz oben in der Mitte zwischen den Sesselreihen einnahm, lag auf einem Tische ein großes Buch, schwarz gebunden und von ehrwürdiger Dickleibigkeit. Der jüngere Herr hatte, wie gesagt, diese ganze Einrichtung überflogen mit dem scharfen Auge, in dessen Tiefe dabei ein Funken lustigen Spottes glomm. Auch der etwas erhöhte Platz war ihm dabei nicht entgangen, hinter dem Sitze der Vorleserin, und auf ihm der tiefere, größere, weiß und goldene Sessel, dessen Schnörkellehne oben die Pfalzgrafenkrone trug.

Vogelkantate.
Nach einem Gemälde von P. Meyerheim.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 221. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_221.jpg&oldid=- (Version vom 17.5.2021)