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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Gemahl“, und wenn der nicht auf spiritistischem Wege herbeigezaubert wurde, so lag kein ersichtlicher Grund vor, warum ich nicht heute übers Jahr auch noch hier in der Droschke sitzen sollte, falls Pferd und Kutscher die Sache nicht inzwischen satt bekamen.

Also thun mußte ich etwas, das war klar. Und die zwingende Nothwendigkeit war in diesem Falle die Mutter des Gedankens – der Gemahl mußte zur Stelle!

Ich rief dem Kutscher unsere Straße und Hausnummer zu, flehte ihn unter Zusicherung eines fürstlichen Trinkgeldes an, zu jagen, was sein Pferd vermochte – und fort ging es zum zweiten Mal an diesem denkwürdigen Tage.

Wie ich zu Hause die Treppe hinauf und in unsere Wohnung gekommen bin, das weiß ich heute noch nicht. Ich riß an der Klingel, daß es durchs ganze Haus gellte, stürzte in den Flur, in die Studierstube, die sonst um diese Zeit wie Blaubarts Kammer gemieden werden mußte, ließ die Thür des Heiligthums gegen jede Hausordnung weit offen stehen und rief: „Robert – Deinen Frack, Deinen Cylinderhut, Deine Handschuhe – rasch, es handelt sich um unsere ganze Existenz!“ Robert starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Er war, aus der friedlichen Luft seines Pfandrechts in den Wirbelsturm der Ereignisse gerissen, zum Glück so betäubt, daß er sich von mir wie eine Puppe in den Frack stopfen ließ. Er versicherte mir nachher, er habe das Gefühl gehabt, als wäre ein Cyklon über ihn gekommen, der ihn gepackt und geschüttelt hätte – aber da ich ihn gar nicht zu Worte kommen ließ, sondern nur immer rief: „Rasch, rasch!“ so folgte er mir stumm wie ein Lamm zur Schlachtbank – allerdings wie ein Lamm mit Cylinderhut und hellen Handschuhen.

An der Thür angelangt, schlug ich mich vor die Stirn. „Die Tropfen!“ rief ich, flog noch einmal nach meines Mannes Schreibtisch, ergriff das erste beste Fläschchen – ein Verbrechen, dessen ich mich unter normalen Verhältnissen nie schuldig gemacht hätte, und sauste meinem Gatten nach, der auf der Treppe stehen geblieben war und mich hilflos ansah.

„Lisa, wenn ich mir eine bescheidene Frage erlauben darf – wo soll ich denn hin?“

„In die Droschke!“ erwiderte ich mit dem letzten Rest meines Athems – und erst als wir schon ein paar Straßen weit gejagt waren, kam ich soweit zu mir, daß ich ihm in kurzen fliegenden Worten die Sache schildern und ihm klar machen konnte, daß er nolens volens zehn Minuten lang Annas besorgter Gatte sein und sie in einem nervösen Anfall beklagen und stützen müsse.

Robert war viel zu verblüfft und verwirrt, um mir wegen unseres tollen Streiches Vorwürfe zu machen – er that überhaupt während der ganzen Fahrt den Mund nur dreimal auf, und auch das nur, um kopfschüttelnd vor sich hinzusagen: „Merkwürdig!“, was mir in diesem Falle nur erwünscht sein konnte.

Ohne uns anzusehen, erstiegen wir die oberpräsidentliche Treppe; auf jeder dritten Stufe wiederholte ich meinem zerstreuten Gatten: „Ich bin die Kammerjungfer Deiner Frau!“ was er mit freundlichem „So?“ aufnahm. Ob er die nöthigen Konsequenzen daraus ziehen werde, mußte ich abwarten. Plötzlich fiel mir etwas ein. Ich blieb stehen.

„Robert!“ stieß ich ängstlich hervor, „ist rothe Tinte Gist?“

Robert sah mich mißtrauisch an – der Gedanke, ob es wohl bei mir ganz richtig im Oberstübchen wäre, der ihm, wie er später gestand, an diesem Morgen schon ein paarmal gekommen war, schien bei dieser Frage noch an Greifbarkeit zu gewinnen.

„Nein!“ sagte er sanft, „hast Du vielleicht solche getrunken?“

Ich schüttelte den Kopf und strebte vorwärts – das Fläschchen, welches ich in aller Eile mitgenommen hatte, enthielt die obenerwähnte Flüssigkeit und diese mußte nervenberuhigende Tropfen vorstellen.

Als wir in die Salons Ihrer Excellenz eingeführt wurden, ich als Kammerjungfer bescheiden hinter meinem Brotherrn eintretend, lag die arme Anna immer noch schmachtend in der Sofaecke. Um sie herum wie ein Stillleben waren Riechfläschchen, ein Glas Kapwein, ein Fächer und eine Schachtel Brausepulver gruppiert – die Excellenz stand tröstend daneben.

Bei unserem Eintreten flog ein mit aller Anstrengung nicht zu unterdrückender Heiterkeitsausdruck über das Gesicht der Leidenden, der mit gutem Willen für eine krampfhafte Zuckung gehalten werden konnte. „Nun, mein lieber Herr Professor,“ rief uns die Excellenz entgegen, wieder ganz Herablassung und Güte. „Da kommen Sie ja mit Ihren langersehnten Tropfen!“

Robert warf einen wilden Blick um sich. „Tropfen?“ wiederholte er tonlos. „Hier, Herr Profeffor!“ fiel ich räsch ein. „Ich habe das Fläschchen!“

Die Excellenz, einen silbernen wappengeschmückten Theelöffel in der Hand, schien entschlossen, das Samariterwerk zu vollenden, und nach dem Grundsatz „Viel hilft viel!“ goß sie eine recht kräftige Portion ein, die sie Anna mit einem herzlichen „So – das wird gut thun!“ eben an den Mund bringen wollte. Aber diese wehrte schwach mit der Hand ab. „Nur zehn Tropfen!“ flüsterte sie. Ich übernahm denn nun mit einem verbindlichen „Excellenz gestatten!“ das Eintropfen, damit die würdige Dame nicht die Aufschrift „Rothe Tinte“ entdecken sollte, die ihr auf den ersten Blick zum Glück entgangen war.

Diese zehn Tropfen, die ich barmherzig und knapp bemaß, mußten nun freilich geschluckt werden. Sie thaten eine förmlich zauberhaft schnelle Wirkung, denn Anna stand rasch auf den Füßen, dankte tausendmal und ließ sich von Excellenz versichern, wie sehr diese sich freuen würde, die Patientin frisch und hergestellt auf ihrem Feste zu begrüßen. „Denn wir dürfen doch hoffen, Sie hier zu sehen?“ fügte sie hinzu, sich an Robert wendend, der mir einen Dolchblick zuwarf und ein unverständliches Gemurmel hören ließ. Er hat mir später gesagt, es hätte „Den Teufel auch!“ geheißen, aber es wurde der größeren Wahrscheinlichkeit halber für „Mit tausend Freuden!“ aufgenommeu. Unter dem Schnellfeuer immer erneuter Danksagungen und Höflichkeitsbezeigungen traten wir dann den Rückweg an, und als wir glücklich wieder in unserer Droschke saßen, die entschieden das beste Geschäft bei diesem Abenteuer machte, da begannen Anna und ich zu lachen wie nie vorher und nie nachher – so unaufhaltsam, wie man eben nur lacht, wenn auch ein gut Theil Nervosität dabei ist – und das war es hier.

Mein armer Mann saß indessen in seinem Fracke und Cylinder auf dem Rücksitz und sah immer abwechselnd Frau und Schwägerin an – ich glaube, er hätte jetzt gern etwas gepredigt, aber wir ließen ihn nicht zu Worte und uns nicht zu Athem kommen. Wenn eine von uns beiden sich eben die letzten Lachthränen getrocknet hatte, dann brauchte die andere sie nur anzusehen oder zu sagen: „Die Tropfen!“ und es ging wieder los. Der Droschkenkutscher, der sich ohnehin schon gewundert haben mochte, was es eigentlich mit uns für eine Bewandtniß habe, sah sich alle Augenblicke vom Bocke herunter mit einem ganz vergnügten Gesicht nach uns um – solche Passagiere hatte er gewiß nicht oft zu fahren.

„Und jetzt zu uns!“ rief Anna endlich, „Ihr eßt heute bei uns – den Tag wollen wir erstens nicht so nüchtern beschließen und dann habe ich auch zu große Angst für Dich, Lisa – Dein Blaubart verschlingt Dich ja mit Haut und Haar, wenn Du jetzt mit ihm allein bleibst!“

Wir lachten von neuem. Mein Mann, der noch schwach das Wort „Pfandrecht“ hören ließ, wurde überstimmt; in der fröhlichsten Laune fuhren wir zu den Geschwistern.

Mein Schwager, der ganz so fidel war wie seine Frau, holte Champagner herauf, um Roberts Staatsvisite wider Willen zu „begießen“, wie er sagte, und Robert selbst wurde ganz aufgeräumt und gab Generalpardon, da ich meine oder besser Annas Greuelthat schon mit einer genügenden Angstportion hätte abbüßen müssen.

Dieses Mittagessen hätte ja nun unsere Lügengeschichte schließen können und sollen – aber so leicht kamen wir nicht weg. Als wir einigermaßen zur Ruhe gekommen waren und die Sache beim Kaffee durchsprachen, sagte mein Schwager Rudolf, der rauchend im Schaukelstuhl lag, plötzlich ganz ernsthaft: „Ja, Kinder, wie denkt Ihr Euch aber nun den weiteren Verlauf der Sache?“

„Wie meinst Du das?“ fragte Robert, und wir Damen horchten auf – die Frage kam uns überraschend.

„Das meine ich so!“ erwiderte Rudolf und richtete sich etwas aus seiner bequemen Stellung auf, „daß ich den ganzen Witz sehr harmlos und lustig finde und daß er famos hätte sein können, wenn er eben die Güte gehabt hätte, programmmäßig zu verlaufen –“

„Aber?“ fiel seine Frau athemlos ein.

„Aber – da er das nicht gethan, da vielmehr der Zufall sich wieder einmal als ein ganz heimtückischer Gesell gezeigt hat, so bleibt meines Erachtens gar nichts übrig, als daß wir alle, wie wir hier sitzen, unter irgend einem möglichst einleuchtenden Vorwand auf den Ball verzichten. Denn sonst könnte die Geschichte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_211.jpg&oldid=- (Version vom 14.12.2022)