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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

hatten den Befehl, den Gefangenen, falls seine Befreiung mit Uebermacht versucht würde, eher zu töten als auszuliefern. Schon wiederholt hatten sie sich über die Mühen und Beschwerden, die der Dienst bei dem Gefangenen ihnen auferlege, höheren Ortes beklagt, und sie ergriffen wohl nicht ungern die Gelegenheit, sich ihrer Pflichten zu entledigen. – Als Mirowitsch in Iwans Zelle trat, lag der zum Unglück geborene Fürst, von Degenstichen durchbohrt und in seinem Blute schwimmend, tot auf dem Boden; die beiden Offiziere, die ihn getötet hatten, standen theilnahmlos hinter der Leiche. „Ihr Gewissenlosen, warum habt Ihr das Blut dieses unschuldigen Menschen vergossen?“ rief Mirowitsch. Jene antworteten: „Was das für ein Mensch ist, wissen wir nicht; wir wissen nur, daß er ein Arrestant ist; was wir gethan haben, war unsere Pflicht.“

Mirowitsch ließ die Leiche vor die Hauptwache tragen und ihr dort militärische Ehren erweisen. Dann erklärte er den Soldaten, er werde, da nun ihr Unternehmen mißglückt sei, alle schlimmen Folgen allein auf sich nehmen. Darauf kündigten ihm nach dem Vorgaug eines Korporals die Soldaten den Gehorsam, nahmen ihm den Degen ab und verhafteten ihn; einige befreiten den Festungskommandanten, und dieser ließ den Aufrührer gefangen setzen. Als der inzwischen von den Vorfällen benachrichtigte Kommandeur des Regiments, welchem Mirowitsch angehörte, und die durch die gewechselten Schüsse alarmierte Regimentswache in der Festung erschienen, um die Ordnung wiederherzustellen, war ihr Eingreifen schon unnöthig geworden.

Kaiser Iwans in Lumpen gehüllter Leichnam, über den man einen Mantel geworfen hatte, lag während des 18. Juli und noch am Morgen des folgenden Tages auf zwei Brettern neben der Hauptwache; dann ordnete der Graf Panin in Vertretung Katharinas an, ihn in der nächsten Nacht im Bereiche der Festung still zu beerdigen.

Der Lieutenant Mirowitsch wurde nach einem längeren Untersuchungsverfahren zum Tode verurtheilt und enthauptet. Die von ihm verleiteten Soldaten kamen wenigstens mit dem Leben davon. Da das Unternehmen, Iwan zu befreien und auf den Thron zu erheben, damals wenig Aussicht auf Erfolg bot, die Tötung Iwans aber, welche die Kaiserin von einem Prätendenten befreite, die fast nothwendige Folge jedes ernsten Befreiungsversuches sein mußte, so ist vermuthet worden, daß Katharina oder deren Günstlinge den Lieutenant Mirowitsch zu seiner That heimlich angestiftet hätten, unter der Zusicherung, daß man ihn noch auf dem Schafott begnadigen und später reich belohnen würde. Aber die neuesten Forschungen über diese Frage, welche von so hervorragenden Kennern der russischen Geschichte wie Brückner und Bilbassow angestellt worden sind, haben keinen Anhalt für diese Vermuthung ergeben. Wollte Katharina den natürlichen Tod des Gefangenen nicht abwarten, so hätte sie wahrscheinlich die Mittel gefunden, ihn in aller Stille zu beseitigen und so das große Aergerniß zu vermeiden, welches durch dieses Ende Iwans und die begleitenden Umstände jetzt thatsächlich hervorgerufen wurde.

Der Vater Iwans, der Herzog Anton Ulrich von Braunschweig, lebte inzwischen mit den vier Kindern, die ihn umgaben, sein einförmiges Gefängnißleben in Cholmogory weiter. Die Kaiserin Katharina ließ nach ihrer Thronbesteigung ihm allein, da er als nur angeheiratheter Verwandter der Zarenfamilie ihrer Krone am wenigsten gefährlich war, die Erlaubniß zur Reise in seine Heimath anbieten. Hochherzig lehnte er es ab, ohne seine Kinder die Freiheit wiederzuerlangen. Während seiner letzten Lebensjahre erblindet, starb er im Jahre 1774 und wurde in Cholmogory begraben.

Vom Jahre 1780 liegen aus der Feder eines von der Kaiserin nach Cholmogory gesandten Beamten Berichte vor, welche von den überlebenden Kindern Anton Ulrichs Kunde geben. Die älteste Prinzessin, Katharina, nun fast 39 Jahr alt, war taub und stotterte; sie zeigte sich ängstlich und verlegen, doch keineswegs verbittert. Die jüngere Schwester, Elisabeth, war kränklich; an Verstand überragte sie ihre Geschwister, und diese ordneten sich ihr willig unter. Die Prinzen Peter und Alexei schienen in ihrer leiblichen und seelischen Entwicklung hinter den Prinzessinen zurückgeblieben; Peter war stark verwachsen.

Untereinander lebten die Geschwister in bestem Einvernehmen. Rührend klingt die Bitte, welche die Prinzessin Elisabeth in ihrem und ihrer Geschwister Namen an den Abgesandten der Kaiserin richtete: früher hätten sie gehofft, einmal frei zu werden und sich weltliche Bildung anzueignen, jetzt aber wünschten sie nur noch, da zu bleiben, wo sie seien, denn sie hätten nicht gelernt, mit Menschen zu verkehren, und es noch zu lernen, sei es zu spät. Man möge ihnen erlauben, die Umzäunung ihres Gefängnisses zuweilen verlassen zu dürfen, denn wie sie gehört hätten, gebe es draußen andere Blumen als in ihrem Garten. Auch möchten sie die Frauen der wachthabenden Offiziere besuchen dürfen.

Die Kaiserin Katharina ließ durch den erwähnten Beamten die Freilassung der Gefangenen vorbereiten. Sie fühlte sich jetzt durch ihre Erfolge in der inneren und äußeren Politik so sicher auf dem Throne, daß sie nicht länger die Besorgniß hegte, durch die Familie Braunschweig, deren am meisten zu fürchtendes Mitglied seit 16 Jahren tot war, verdrängt zu werden. In Verhandlungen mit der Tante der Prinzen und Prinzessinnen, der Königinmutter Juliane Maria von Dänemark, war inzwischen festgesetzt worden, daß deren Sohn, der König Christian VII., die Braunschweiger gegen ein von Katharina zu bezahlendes Jahrgeld in sein Land aufnehme und unterhalte; eine gewisse Ueberwachung, die jedoch nicht zu streng zu handhaben wäre, sollte auch in Dänemark noch stattfinden. Die Fregatte „Polarstern“ wurde im Hafen der an der Mündung der Dwina gelegenen Festung Nowodwinskaja zur Ueberfahrt hergerichtet; von den für diesen Zweck überwiesenen 200000 Rubeln wurde die Hälfte sofort für Kleidungsstücke, Wäsche und Mundvorrath für die Prinzen und Prinzessinnen ausgegeben. Die Hofkanzlei sandte für sie aus Petersburg kostbares Pelzwerk und Schmucksachen. Noch im Jahre 1780 ging die Fregatte unter Segel. In Bergen fand die Uebergabe der Reisenden an die dänischen Beamten statt, und im Oktober 1780 kamen sie in Horsens in Jütland an, wo sie fortan wohnten. Sie sprachen nur russisch und lernten keine andere Sprache mehr. Eingeschlossen wurden sie in den beiden Häusern, die man für sie angekauft hatte, nicht, doch bildeten dänische Offiziere und Beamte ihre Hausgenossenschaft. Die Prinzessin Elisabeth, die schwindsüchtig war, starb im Jahre 1782 im Alter von 39 Jahren. Prinz Alexei folgte ihr, 41 Jahr alt, im Jahre 1787, und elf Jahre später starb Prinz Peter, 53 Jahr alt. Völlig vereinsamt lebte die Prinzessin Katharina, die ein Alter von fast 66 Jahren erreichte, bis zum Jahre 1807. Ueber die Rohheit und Habsucht ihrer dänischen Umgebung hatte sie soviel zu klagen, daß sie sich zuweilen nach Cholmogory zurücksehnte. Ihr liebstes Besitzthum war ein Rubel mit dem Bildniß Kaiser Iwans. In der lutherischen Kirche zu Horsens bezeichnet eine lateinische Inschrift die Grabstätte der vier unglücklichen Geschwister.




Nicht lügen!

Humoreske von Hans Arnold.

„Ja, es ist so eine eigene Sache mit der geselligen Lüge,“ sagte die Geheimräthin Zellner, um deren Theetisch sich heute, wie jeden Donnerstag, derselbe kleine Freundeskreis versammelt hatte. „Ich für meine Person behaupte, man kann ganz gut durchs Leben kommen, ohne sich ihrem Scepter zu unterwerfen – ich habe ihr den entschiedensten Krieg erklärt! Ich lüge nie!“

Doktor Naumann, welcher der frenndlichen Wirthin gegenübersaß, kniff das eine Auge zu. „Hand aufs Herz, Frau Geheimräthin!“ sagte er gut gelaunt, „haben Sie noch nie einen zum mindesten gleichgültigen, wo nicht gar unwillkommenen Besuch mit den Worten empfangen: ‚Ich freue mich sehr‘ – noch nie einem Langweiligen, der sich endlich erhob, gefragt: ‚Ach, Sie wollen schon aufbrechen?‘“

Die Geheimräthin schien eben eine Masche an ihrem Strickzeug verloren zu haben, sie sah wenigstens so unverwandt und ernsthaft darauf nieder, als habe sie für nichts anderes Auge und Ohr.

„Und sollten Sie nie,“ fuhr der erbarmungslose Doktor fort, „wenn Sie ein entsetzliches ‚Thee- und Abendbrot‘-Fest mit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 208. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_208.jpg&oldid=- (Version vom 28.8.2020)