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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

einwirken. Unter den Offizieren und Aufsehern, unter den Soldaten, Dienern und Dienerinnen war viel Zank und Aergerniß anderer Art.

Die Kaiserin Elisabeth fühlte sich trotz aller Vorsichtsmaßregeln doch noch nicht sicher. Ihr wußten zu viele Leute darum, daß ein Prätendent, der ein Jahr lang die Krone des Reiches getragen hatte, in Cholmogory lebte, und sie beschloß, dieses Wissen in aller Stille in einen Irrthum zu verwandeln. Ein Sergeant ihrer Leibkompagnie erhielt den Auftrag, den Kaiser Iwan nach der nicht weit von Petersburg gelegenen Festung Schlüsselburg zu bringen, und dieser Befehl wurde im Laufe des Jahres 1756 im tiefsten Geheimniß ausgeführt. Ein nicht unwahrscheinliches Gerücht meldet, sie habe den damals 18 Jahre alten Gefangenen während der Ueberführung erst nach Petersburg in das Haus eines Günstlings bringen lassen und dort mit ihm gesprochen, ohne daß der Gefangene wußte, wer die Dame war, die er vor sich hatte. In der Behandlung seiner in Cholmogory verbliebenen Angehörigen wurde nichts geändert, ja selbst in den Berichten, die man von dort her einzusenden hatte, mußte des entthronten Fürsten nach wie vor Erwähnung geschehen, als wenn er noch anwesend wäre. Der Zweck der Maßregel wurde insofern erreicht, als nur wenige Vertraute der Kaiserin um den Aufenthalt Iwans in Schlüsselburg erfuhren. Im Publikum glaubte man ihn entweder noch in Cholmogory, oder man bezeichnete, da doch dunkle Nachrichten über seine Entfernung von dort sich allmählich verbreiteten, bald diese, bald jene Ortschaft als seinen Aufenthalt. Sicheres wußte man nicht mehr. Uebrigens scheute sich jeder, der Schicksale Iwans irgendwie Erwähnung zu thun, weil man sich dadurch sehr leicht eine Untersuchung wegen hochverrätherischer Umtriebe zuziehen konnte.

In Schlüsselburg durfte Iwan nach einer uns erhaltenen Weisung für die wachthabenden Offiziere die Kasematten nie verlassen, in denen er untergebracht war. Der Genuß der freien Luft, der ihm in Cholmogory wenigstens innerhalb einer engen Umzäunung vergönnt worden war, wurde ihm also jetzt entzogen. Sein Gefängniß war gegen das Tageslicht abgesperrt und wurde Tag und Nacht künstlich erleuchtet. Außer den ihm beigegebenen Personen durfte niemand ihn sehen; selbst Generale und Feldmarschälle sollten nicht zu ihm eintreten dürfen.

Aus den Berichten, welche die wachthabenden Offiziere von Schlüsselburg aus über „den namenlosen Gefangenen“ erstatteten, ergiebt sich, daß die langjährige wiederholt verschärfte Haft, die harte, in Schlüssckburg geradezu rohe Behandlung, das Fernhalten wohlthätiger Einflüsse und die Absperrung von Altersgenossen die Folgen gehabt haben, die unter den gegebenen Umständen mit Nothwendigkeit eintreten mußten: das Geistes- und Gemüthsleben des Unglücklichen war bis zu einem gewissen Grade verkümmert. Wenn er auch nicht, wie man von zweien seiner Wächter später bezeugen ließ, wahnsinnig war, so glich er doch noch mit vierundzwanzig Jahren einem reizbaren Kinde. Von seiner fürstlichen Abkunft hatte er trotz aller Mühe, die aufgewendet worden war, sie ihm zu verheimlichen, doch Kenntniß erhalten; er sagte, er sei ein Prinz, und nichtswürdige Menschen hätten ihn um seine Rechte gebracht. Körperlich war er gesünder und kräftiger, als man vielleicht erwarten sollte.

Als Peter III. im Jahre 1762 mit dem Tode der Kaiserin Elisabeth zur Herrschaft kam, besuchte er, ohne sich zu erkennen zu geben, den Gefangenen in Schüsselburg und brachte ihm Geschenke an Uhren, Dosen und Kleidungsstücken mit. Der neue Herrscher, dessen eigene Zurechnungsfähigkeit nicht außer Zweifel stand, fühlte doch ein menschliches Rühren mit dem Unglücklichen und ordnete an, ihn zuweilen an die Luft zu führen und ihm einigen Unterricht zu ertheilen; doch sollte auch jetzt niemand mit ihm über seine persönlichen Verhältnisse sprechen. Zu denen, welche der Kaiser vor Iwan auch jetzt noch warnten, gehörte wieder Friedrich der Große, der in der Befürchtung, im Falle einer Thronumwälzung den ihm ergebenen Peter III, durch einen preußenfeindlichen Herrscher ersetzt zu sehen, jenen in einem unter dem 4. Mai 1762 erlassenen Briefe daran erinnerte, daß ein Entkommen Iwans aus der Gefangenschaft den Sturz des Kaisers herbeiführen könne, namentlich wenn sich dieser in persönlicher Betheiligung an einem auswärtigen Kriege aus Rußland entferne.

Die Kaiserin Katharina II., die im Sommer 1762 ihrem Gemahl Peter III. das Scepter entwand und deren Anhänger diesen ermordeten, hat ebenfalls von dem geistigen und körperlichen Zustand des Gefangenen persönlich Kenntniß genommen. Trotz der schlimmen Einwirkungen der Einzelhaft erschien Iwan ihr doch nicht unbedingt harmlos und üngefährlich, und daß er im Volke nicht vergessen war, konnte sie daraus entnehmen, daß hier und dort das Gerücht auftauchte, sie wolle oder müsse sich zu ihrer eigenen Sicherung mit ihm verheirathen. Schon plante sie, ihn als Mönch in ein entlegenes Kloster eintreten zu lassen; da setzte das Schicksal seinem kummervollen Dasein ein Ziel.

Bei dem in der Vorstadt von Schlüsselburg stehenden Infanterieregiment diente ein Lieutenant Mirowitsch, desse Vater und Großvater wegen Betheiligung an Verschwörungen ihre Güter verloren hatten. Seine Bemühungen, wenigstes eine Theil der Familiengüter durch Prozesse oder Gnadengesuche wieder zu erlangen, blieben vergeblich; Schulden drückten ihn. Nachdem er einigemal die Wache in der Festung bezogen und bei Gelegenheit ermittelt hatte, daß der „namenlose Gefangene“, den man in besonders geschützten Kasematten bewachte, der entthronte Kaiser Iwan sei, faßte er den Plan, diesen Fürsten zu befreien, ihn nach Petersburg zu führen, Heer und Volk für ihn zu gewinnen, ihn an Katharinas Stelle auf den Thron zu erheben und sich dann in ähnlicher Weise mit Ehren und Reichthümern von ihm belohnen zu lasse, wie Katharina die Günstlinge belohnt hatte, die ihr den Thron verschafft hatten.

Das Beispiel der Gebrüder Orlow, welche durch die Entthronung und Ermordung Peters III. emporgekommen waren, mochte dem jungen Abenteurer vorschweben. Aber er verkannte, daß die Umstände für ihn weniger günstig lagen. Peter III. war als Freund der Ausländer verhaßt gewesen, Katharina erfreute sich, wenn auch einzelne Unzufriedene ihr grollten, beim Heere und in der Hauptstadt großer Beliebtheit. Die Entthronung Peters war durch die Sachlage und durch die einflußreiche Anhängerschaft Katharinas gut vorbereitet gewesen; der überschuldete Mirowitsch hatte unter seinen wenigen Freunden und Bekannten auch nicht einen angesehenen Mann. Seine Versuche, Anhänger für seine Pläne zu gewinnen, scheiterten; ein einziger ihm befreundeter Offizier, der ihm beistehen wollte, ertrank auf einer Dienstreise, ehe man zur Verwirklichung der Pläne schreiten konnte. Mirowitsch beschloß nun, mit Hilfe der von ihm befehligten Wachtmannschaft allein zu handeln, und zwar während der Sommermonate des Jahres 1764, als Katharina eine Reise nach den deutschen Ostseeprovinzen antrat; die Abwesenheit der Kaiserin erschien für sein Unternehmen förderlich.

Vom 15. bis zum 18. Juli (neuen Stils) hatte Mirowitsch mit etwa 40 Mann seines Regiments die Wache in Schlüsselburg. Er suchte die ihm unterstehenden Korporale und Soldateu einzeln zur Befreiung Iwans zu bereden; zögernd und ohne rechtes Verständniß äußerten sie ihre Zustimmung. In der Nacht gegen 2 Uhr ließ er die Mannschaft unter das Gewehr treten und die Flinten scharf laden. Der Kommandant der Festung, Oberst Berednikow, der in seiner Wohnung im Obergeschoß über der Wache den so entstandenen Lärm hörte, eilte die Treppe hinab und fragte, weshalb die Wache zu ungewohnter Stunde zusammentrete. „Warum hältst Du den unschnldigen Kaiser hier gefangen?“ rief Mirowitsch ihm zu, verwundete ihn durch einen Kolbenschlag und ließ ihn gefangen setzen. Hierauf marschierte er mit seinen Leuten auf das von Iwan bewohnte Kasemattengebäude zu, Dieses war durch eine Sonderwache von 2 Offizieren und 14 Mann geschützt, welche nicht zu dem Regiment Mirowitschs gehörten, sondern eine zur Bewachung Iwans besonders gebildete, seit Jahren nicht abgelöste Abtheilung darstellten. Auf ihr „Wer da?“ antwortete Mirowitsch: „Ich gehe zum Kaiser.“ Die Sonderwache gab darauf auf Mirowitsch und die Seinen Feuer, und er ließ das Feuer erwidern, doch wurde bei der spärlichen Erhellung des Festungshofes niemand verwundet. Es entstand eine Stockung; die von Mirowitsch befehligten Soldaten, die den Ernst der Lage begriffen, verlangten

von ihm, daß er ihnen den Befehl vorlege, der ihn zu seinem Vorgehen berechtige. Er hatte einige von seiner Hand geschriebene Aufrufe an die Soldaten und an das Volk zur Hand und las ihnen daraus vor. Noch wankten sie nicht, und er konnte ein leichtes Geschütz herbeischaffen lassen, mit dem er die Sonderwache und das von ihr geschützte Gefängnißthor bedrohte. Zugleich verhandelte er mit der Sonderwache, und diese, der Uebermacht weichend, kündigte ihm an, daß sie ihren Widerstand aufgebe. Die ihr vorgesetzten, seit zwei Jahren mit der Bewachung Iwans betrauten Offiziere, ein Kapitän Wlaßjew und ein Lieutenant Tschekin,

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