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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


Leidensgeschichte und zählte eine ganze Reihe von Uebeln auf, bis ihn Hagenbach ungeduldig unterbrach.

„Was Sie mir da erzählen, weiß ich auswendig, Herr Willmann. Ich habe es Ihnen schon das letzte Mal vorgehalten, Sie pflegen Ihr werthes Ich gar zu gut. Wenn Sie nicht Maß halten im Essen und Trinken und sich keine Bewegung machen, können auch die Mittel nicht wirken, die ich Ihnen verordnet habe.“

„Maß halten?“ wiederholte Willmann in einem sanften wehmüthigen Tone. „O Gott, Herr Doktor, ich bin die Mäßigkeit selbst. Aber ein Gastwirth ist in dem Punkte leider ein Opfer seines Berufes. Ich muß doch bisweilen mit den Gästen plaudern und trinken, das bringt das Geschäft so mit sich, und –“

„Sie nehmen dies Märtyrerthum mit Selbstverleugnung auf sich! Meinetwegen – aber dann verlangen Sie nicht, daß ich Ihnen helfen soll. Mir liegt überhaupt gar nichts an der auswärtigen Praxis, ich habe in Odensberg alle Hände voll zu thun. Warum wenden Sie sich denn nicht an meine Kollegen, die weit mehr Zeit haben?“

„Weil mir das Vertrauen fehlt,“ sagte Herr Willmann feierlich, ohne sich durch die derbe Erklärung aus der Fassung bringen zu lassen. „Sie haben etwas so Vertrauenerweckendes, Herr Doktor.“

„Ja, Gott sei Dank, ich verfüge über die nöthige Grobheit,“ versetzte Hagenbach mit Seelenruhe, „Dann haben die Leute immer Vertrauen. Also wollen Sie sich meinen Vorschriften fügen? Ja oder Nein?“

„Lieber Himmel, ich füge mich ja in alles. Wenn Sie wüßten, was ich in den letzten Tagen ausgestanden habe, diese entsetzlichen Magenbeschwerden –“

„Daran sind die guten Braten und Saucen schuld,“ warf der Doktor kaltblütig dazwischen.

„Und diese Athemnoth, dieser Schwindel im Kopfe –“ „Kommt von dem Bier, bei dem Sie täglich Ihr bester Stammgast sind. Das Bier wird gestrichen, das Essen auf das Nothwendige beschränkt. Also –“ er begann eine Reihe von Verordnungen aufzuzählen, die Herrn Willmann in helles Entsetzen jagten.

„Das ist ja eine wahre Hungerkur, Herr Doktor,“ jammerte er. „Dabei muß ich zu Grunde gehen.“

„Wollen Sie lieber als Opfer Ihres Berufs zu Grunde gehen?“ fragte Hagenbach. „Mir ist’s recht, aber dann lassen Sie mich in Ruhe!“

Der Patient seufzte tief und schmerzlich auf; indessen die vertrauenerweckende Grobheit des Doktors mußte wohl den Sieg über seine Bedenken davontragen, er faltete die Hände und blickte zur Decke empor. „Wenn es nicht anders geht – in Gottes Namen!“ sagte er salbungsvoll.

Der Arzt stutzte plötzlich, heftete einen scharfen Blick auf ihn und fragte dann ganz unvermittelt: „Haben Sie vielleicht einen Bruder, Herr Willmann?“

„Nein, ich war das einzige Kind meiner Eltern.“

„Sonderbar! Mir fällt da eine Aehnlichkeit auf, das heißt, eigentlich ist es gar keine Aehnlichkeit – im Gegentheil, Sie haben keinen Zug von dem Betreffenden.“

Herr Willmann schüttelte sanft das Haupt, zum Zeichen, daß ihm diese dunklen Worte unverständlich seien, während Hagenbach fortfuhr: „Oder haben Sie sonst einen Verwandten, der in Afrika gewesen ist, in Aegypten, in der Sahara oder sonst irgendwo da herum im Wüstensande?“

Die vollen Wangen des Herrn Willmann verloren etwas von ihrer rosigen Farbe, und er machte sich mit seiner schweren goldenen Uhrkette zu schaffen, als er antwortete: „Ja – einen Vetter.“

„Der Missionär wurde?“

„Ja, Herr Doktor.“

„Und dann dem Fieber erlag?“

„Ja, Herr Doktor.“

„Er hieß Engelbert? Stimmt! Und wie heißen Sie denn eigentlich?“

„Pan-kra-tius,“ versetzte Willmann gedehnt, während er noch immer mit der Uhrkette spielte.

„Ein schöner Name! Also Herr Pankratius Willmann, in drei Wochen kommen Sie wieder, und wenn ich inzwischen beim ‚Goldenen Lamm‘ vorbeikommen sollte, werde ich nachfragen. Adieu!“

Willmann verabschiedete sich mit mildem Danke für den gespendeten Rath und Hagenbach blieb allein.

„Die Sache stimmt,“ murmelte dieser vor sich hin „Also ein Vetter dieses selig verstorbenen Engelbert mit der Trauerschleife! Den frommen Augenaufschlag haben sie beide, das scheint ein Familienfehler zu sein. Ob ich es ihr erzähle? Ich werde mich hüten! Sie ließe den theuren Anverwandten auf der Stelle kommen, und dann würde die ganze Wehmuthsgeschichte noch einmal durchgesäuselt und aufs neue ewige Treue gelobt. Uebrigens werde ich dem Dagobert das versprochene Rezept mitgeben, er wollte ja gerade nach dem Herrenhause zu Leonie.“

Damit ging er hinüber in das Zimmer seines Neffen, den er auch noch antraf. Der junge Mann hatte sich bereits zum Ausgehen fertig gemacht. Hut und Handschuhe lagen auf dem Tische neben einem umfangreichen blauen Heft, er selbst aber stand vor dem Spiegel und betrachtete angelegentlich seine eigene werthe Persönlichkeit. Er zupfte die Halsbinde zurecht, fuhr sich mit der Hand durch das blonde Haar und versuchte, seinem noch sehr in den Anfangsgründen steckenden Schnurrbärtchen einen kühnen Schwung zu geben.

Endlich schien Dagobert mit der Erscheinung seines äußeren Menschen zufrieden; er trat einige Schritte zurück, legte betheuernd die Hand aufs Herz, seufzte herzbrechend und begann dann halblaut etwas zu sprechen, was der Doktor, der von der Thürschwelle aus mit wachsendem Erstaunen zusah, nicht verstehen konnte.

(Fortsetzung folgt.)




Die Gefangenen von Cholmogory.
Von Eduard Schulte.

Zu den deutschen Fürstenfamilien, welche in die an jähen Glückswechseln so reiche Geschichte der russischen Herrscher im 18. Jahrhundert verflochten sind, gehört ein Zweig des Hauses Braunschweig. Die unglücklichen Schicksale dieser Familie waren lange Zeit in tiefes Geheimniß gehüllt; sie sind infolge der Eröffnung der russischen Archive erst in den beiden letzten Jahrzehnten soweit bekannt geworden, daß sie im Zusammenhang und mit hinreichender Zuverlässigkeit erzählt werden können,

In Rußland galt im 18. Jahrhundert keine Thronfolgeordnung, an welche die Herrscher sich gebunden hätten. Der jeweilige Herrscher bestimmte unter seinen Verwandten seinen Nachfolger, und dieser regierte dann so lange, bis etwa ein anderer Verwandter ihn stürzte. Auf Befehl der Nichte Peters des Großen, der Kaiserin Anna, welche von 1730 bis 1740 regierte, wurde nach ihrem Tode ihr Großneffe, Prinz Johann von Braunschweig, als Iwan III. zum Kaiser ausgerufen, obwohl er erst einige Wochen alt war. Die Regentschaft in seinem Namen führte erst Biron, Herzog von Kurland, und dann die Mutter des jungen Kaisers, die Prinzessin Anna, welche aus der Ehe eines mecklenburgischen Herzogs mit einer Nichte Peters des Großen stammte, seit ihrem fünften Jahre in Rußland lebte, wie eine russische Prinzessin im griechischen Glaubensbekenntniß erzogen war und sich mit dem Herzog oder Prinzen Anton Ulrich von Braunschweig verheirathet hatte. Diese im Namen Iwans geführte Regierung, während deren der junge Kaiser bei feierlichen Anlässen, auf einem Purpurkissen liegend, dem Volke gezeigt wurde, dauerte wenige Wochen über ein Jahr. Im Winter des Jahres 1741 bemächtigte sich Elisabeth, die Tochter Peters des Großen, durch eine Palastrevolution des kaiserlichen Thrones. Auf ihre Anordnung wurde im Dezember desselben Jahres ein Schlittenzug ausgerüstet, welcher den entthronten Kaiser, seine Eltern und deren im Sommer 1741 geborene Tochter, Katharina mit Namen, über Riga und Königsberg nach Braunschweig, also nach der Heimath des Vaters, führen sollte, Von einer Abtheilung Soldaten umgeben, brach dieser Schlittenzug alsbald von Petersburg auf

Es war ein hartes Verhängniß für die entthronte Herrscherfamilie, daß es ihr nicht vergönnt wurde, das ursprünglich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 204. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_204.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)