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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Herren“ gegenüber recht deutlich zu kennzeichnen, flicht Rafael die Anekdote ein, wie ein fremder Gesandter den seiner Meinung nach armen Utopiern durch Pomp imponieren will. „Sieh doch diesen großen Schelm,“ sagt ein Junge zu seiner Mutter, „der noch Juwelen trägt, wie wenn er ganz klein wäre!“ – „Schweig’, mein Sohn,“ antwortet die Mutter. „er ist, denk’ ich, einer von den Spaßmachern der Gesandtschaft.“

Jagd und Hazardspiel sind verachtet; erstere ist nur den Metzgern erlaubt und gilt für eine unwürdige Thätigkeit. Zu Sklaven nimmt man diejenigen, welche als Feinde mit Waffen in der Hand gefangen genommen worden sind, Ausländer, die, auswärts zum Tode verurtheilt, von den Utopiern losgekauft wurden und – solche Utopier welche schwere Verbrechen begangen haben: letztere werden am niedrigsten geachtet. Die Zahl der Gesetze ist sehr gering und die gewöhnliche Strafe ist Sklaverei, kommt aber nicht sehr häufig vor. Advokaten giebt es nicht, und da der Richter lediglich nach seiner persönlichen Vertrauenswürdigkeit gewählt wird, so fallen die Urtheile gewöhnlich ganz gerecht aus; in den meisten Fällen genügen Verwarnungen völlig. Streng wird auf Sittlichkeit geachtet; die Verlobten prüfen sich vor der Ehe gegenseitig genau; Ehescheidung ist möglich, aber schwer; auf Ehebruch jedoch steht Sklaverei.

Verträge mit fremden Völkern werden nicht abgeschlossen, da dieselben nach Erfahrung der Utopier doch nicht gehalten werden. Ein besonderer Greuel ist dem Volke der Krieg, obwohl es sich, Mann wie Weib, in den Waffen übt. Mit allen Mitteln, z. B. durch Bestechung der Gegner mit Gold, suchen sie ihn zu verkürzen oder wenigstens durch fremde Söldlinge ihn zu führen. Diese Abneigung gegen den Krieg hängt zusammen mit der ganzen Weltanschauung der Utopier und ihrer religiösen Grundstimmung.

Dieselbe ist auf eine ruhige und bewußte Freude am Leben gerichtet; alle Handlungen, sogar die Tugenden, werden auf die Freude des Menschen als ihren Endzweck bezogen. Der größte Theil der Einwohner glaubt an einen einzigen, ewigen, unermeßlichen, unbekannten, unerklärlichen, erhabenen Gott, den sie „Vater“, „Mythra“, nennen und dem sie alles Gute zuschreiben. Die Seele des Menschen hat Gott als unsterbliche geschaffen, damit sie glücklich sei. Neben dieser Grundanschauung und auf ihr aufgebaut gehen vielerlei eigenartige Sekten und besondere Kulte einher, die aber alle durch gemeinsame Züge verbunden sind und zum gemeinsamen Ziele Verehrung der göttlichen Natur haben. Völlige Religionsfreiheit herrscht auf Utopia, nur der eigentliche „Materialist“ wird verachtet und gestraft, weil seine Anschauung den Menschen erniedrige, der „Spiritualist“, sein Gegenbild, wird nur als Schwärmer angesehen. Die Priester sind Männer von hervorragender Frömmigkeit; sie genießen ein großes Ansehen, üben ein gewisses Censorenamt aus und leiten das öffentliche Erziehungswesen; auch Frauen gehören diesem Stande an. Der öffentliche Kultus ähnelt nach Rafaels Beschreibung durchaus dem katholischen Ritus. Gemeinsame weihevolle Feste verbinden bei erhebendem Gesang die Bürger der Insel und flößen ihnen das tröstliche Gefühl der gemeinsamen Liebe und der steten Zusammengehörigkeit ein.

In scharfen Worten stellt am Schlusse der Erzähler diesem Bilde wunderbaren Volkswohles dasjenige der damals in der alten Welt herrschenden Zustände noch kurz entgegen: der Stolz, die Leidenschaft, die Selbstsucht setze der Umwandlung der europäischen Völker einen unüberwindlichen Widerstand entgegen! Rafael wünscht von Herzensgrund allen Ländern eine Verfassung wie die, welche er geschildert hat; auch More, obwohl er gesteht, daß die Grundlage dieses Staates; nämlich die Gemeinschaft des Lebens und der Güter ohne den Gebrauch des Geldes, allen seinen Vorstellungen widerspreche, ersehnt eine Reihe der geschilderten Einrichtungen für sein Vaterland, läßt aber einen Tropfen bitteren Zweifels in diese Sehnsucht sich mischen, indem er mit den Worten schließt: „Ich wünsche es mehr, als ich es hoffe.“

Auch heute noch wird niemand das in jeder Beziehung gedankenreiche Werk des Kanzlers More lesen, ohne sich davon angezogen zu fühlen. Welch eine Gluth der Menschenliebe, welch eine Verachtung des Niederen am Menschen spricht aus diesen Schilderungen! Warum sollten wir auch nicht für diesen Mann Theilnahme gewinnen, von dem wir wissen, daß er in ruhiger Fassung, ein Scherzwort auf den Lippen, sein Haupt unter das Fallbeil legte, weil er nicht gesonnen war, sich der unwürdigen Laune eines derjenigen Fürsten zu beugen, von denen er in seinem Werke so richtig sagt, daß sie, statt als treue Hunde die Herde der Schafe zu bewachen – selbst Wölfe seien!

Bei Plato hat es sich lediglich um die folgerichtige Durchführung einer Staatsidee gehandelt; bei den christlichen Chiliasten, die wir in unserem letzten Artikel besprochen haben, trat uns ein Bild rein inneren unfaßbaren Glücks entgegen. Hier bei dem großen Engländer treffen wir zum ersten Male auf den Gedanken, thatsächliche Verhältnisse zur Grundlage zu nehmen und auf ihnen weiterzubauen; wir stehen im Morgengrauen der neuen Zeit, an der Schwelle der Erfindungen und Entdeckungen, am Beginn der großen reformatorischen Bewegung der Geister.

Die Grundlage für Mores Utopie bilden nicht abstrakte Ideen oder bestimmte Glaubenssätze, sondern ganz konkrete und anschauliche Thatsachen: auf der einen Seite die wirthschaftlichen Zustände Englands, auf der anderen die Reiseschilderungen der Seefahrer, die aus den Landen der Entdeckungen heimkehrten. Die Stelle, da das Land der Glücklichen zu suchen ist, liegt hier nicht „jenseits“ im Sinne der Propheten des Alten Testaments und der christlichen Dogmatiker, sie liegt nur „jenseits“ in geographischem Sinn – nicht in der „anderen“, unzugänglichen Welt, sondern nur auf der „anderen“ zugänglichen Halbkugel!

Es ist Thatsache, daß eine Menge kleiner Züge, welche sich in den Erzählungen des Rafael vorfinden, wirklich mit Reisebeschreibungen aus der Zeit der Entdeckungen übereinstimmt. Nichts von den Lebensgewohnheiten und Einrichtungen der Utopier trägt den Charakter des eigentlich Wunderbaren, des Unbegreiflichen; kein einziger Zug ist vorhanden, welcher nicht entsprechenden Eigenschaften des damaligen Menschen entlehnt werden konnte. Das Höchste, was sich der Utopist nach dieser Richtung hin gestattet, sind künstliche Brutanstalten für Geflügel, die allerdings auch heutzutage noch drüben im neuen Erdtheil weit großartiger zu sein scheinen als bei uns in Europa. In diesem Maßhalten der Phantasie, in dieser ruhigen Beherrschung des Gedankens liegt einer der einnehmendsten Vorzüge der Utopie. Diese ist so wenig eine bloße Nachbildung platonischer Gedanken, daß vielmehr ganze Abschnitte, so die Schilderung der Wollproduktion, der politischen und dynastischen Machinationen, des Adels etc., vollkommen treue Schilderungen der damaligen englischen Zustände genannt werden müssen. Gerade dies ist so überraschend in der Anlage, daß es unmöglich übersehen werden könnte, auch wenn man den wichtigen und überaus charakteristischen Brief nicht hätte, welchen Erasmus von Rotterdam, der berühmte Humanist, im Jahre 1519 an Ulrich von Hutten schrieb, den berühmten Ritter, der vor Sehnsucht brannte, More kennenzulernen. Dort heißt es: „Die Utopia verfaßte er (More) mit der Absicht, zu zeigen, worin es liege, daß die Staaten in schlechtem Zustand seien, namentlich aber hatte er bei seiner Darstellung England vor Augen, das er gründlich durchforscht und kennengelernt hat.“ Die Wirkung, insbesondere nach der kritischen Seite hin, war denn auch, obwohl das Werk lateinisch geschrieben ist, eine ungeheure; es wurde in fast alle Sprachen übersetzt, und es liegen Zeugnisse vor, welche seinen Eindruck auf die Geister wiederspiegeln, derart, daß viele an das wirkliche Vorhandensein der neuen Insel Utopia glaubten und daher das Verdienst des More mit dem Hinweis darauf zu verkleinern suchten, daß er ja nur eine Beschreibung der Dinge geliefert habe.

Wer die Utopia von More für einen Scherz, für eine nicht ernst gemeinte Sprachübung hält, oder auch, wer meint, More habe selbst nicht an den Inhalt „geglaubt“, der täuscht sich und versteht nicht, in dem großen Werke den Geist des großen Mannes zu lesen.

Allerdings – der kritische Zweck steht im Vordergrund: wer die Verflechtung der Geschicke des unglücklichen Kanzlers mit dem Leben des Wüterichs Heinrich VIII. kennt und weiß, daß damals die Fürsten, wie dies auch in der Utopie hervortritt, oft sowohl thatsächlich als der gemeinsamen Anschauung nach die Quellen des Guten wie des Bösen waren, das den Völkern zutheil wurde, der wird herausfühlen, daß solch eine Gegenüberstellung von Volkswohl und Tyrannenherrschaft einen denkenden Fürsten erschüttern sollte und erschüttern konnte. Die Utopia hat auch wirklich nach dieser Seite gewirkt, wenn auch nicht auf den

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_172.jpg&oldid=- (Version vom 10.8.2020)