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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Nr. 8.   1893.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf.   In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf.   In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Freie Bahn!
Roman von E. Werner.
(7. Fortsetzung.)


Der Ankömmling in der Waldhütte war ein junger Mann von etwa vierundzwanzig Jahren mit einem hübschen offenen Gesicht, mit braunem leichtgekrausten Haar und hellen lustigen Augen. Das Wetter hatte ihn übel zugerichtet, denn er war ohne Regenmantel; der graue Reiseanzug, den er trug, triefte von Nässe, und als er jetzt grüßend den Hut zog, ergossen sich von der Krempe desselben verschiedene kleine Bäche auf den Boden.

„Ich bitte, einem verirrten und verregneten Wandersmann gütigst eine kurze Rast zu gewähren,“ sagte er, zu Maja gewandt. „Ich bin wirklich ein ganz gewöhnliches Menschenkind und kein Wassergeschöpf, wie meine äußere Verfassung vermuthen lassen könnte. Darf ich näher treten?“

„Bleiben Sie nur an der Thüre stehen,“ klang es aus der Ecke. „Wassergeister und Erdmännlein vertragen sich nicht, das wissen Sie vermuthlich aus den Märchen.“

„So? Nun, dann bleibt mir nichts übrig, als mich mit meinen sämtlichen menschlichen Eigenschaften auszuweisen mit Namen, Stand, Familie und sonstigem irdischen Beiwerk. Also: Graf Eckardstein, Lieutenant der Infanterie, Bruder des Majoratsherrn von Eckardstein und eben auf dem Wege dahin. Ich habe in Radefeld den Wagen vorausgeschickt, um den schönen Fußweg über die Odensberger Försterei zu machen als es diesen rücksichtslosen Wolken einfiel, sich in wahren Sturzbädern zu ergießen. Daher stammt meine Wassertoilette, die mich in einen so schnöden Verdacht bringt, aber auch das einzige Märchenhafte an mir ist – darf ich mich nun für genügend legitimiert erachten?“

„Ich glaube wohl. Also läßt sich Graf Viktor nach sechs Jahren doch einmal wieder in der Heimath sehen?“

Der junge Graf stutzte und trat trotz des Verbotes rasch einige Schritte näher. „Sie kennen mich?“

„Wichtelmännlein sind allwissend.“

„Aber sie bleiben nicht unsichtbar, wenn sie sich einmal zu dem Verkehr mit Sterblichen herablassen. Soll ich denn wirklich nicht schauen, was sich unter dieser grauen Hülle birgt?“ Er machte bei den letzten Worten einen neuen Versuch, dem geheimnißvollen Wesen näher ins Gesicht zu blicken aber vergebens, denn eine kleine rosige Hand, die urplötzlich zum Vorschein kam, zog die Kapuze so tief herab, daß nur noch das Näschen hervorguckte, und wieder ertönte das leise neckische Lachen, das wie Vogelgezwitscher klang.

„Rathen Sie, Herr Graf!“

„Unmöglich, wie kann ich das! Ich weiß niemand in Eckardstein oder vielleicht in Odensberg, denn wir stehen ja doch auf Odensberger Grund und Boden –“

Er hielt inne, wie um eine Antwort zu erwarten, aber er vernahm nur das erneute: „Rathen Sie!“

Ein entscheidender Zug
Originalzeichnung von L. Halmi.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 117. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_117.jpg&oldid=- (Version vom 26.8.2021)