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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Amtmann Hoffmann und seinen Leuten bekundeten Einzelheiten sämmtlich zu. Zur Erklärung seines Besuches und Verhaltens behauptete er dann zuerst, er habe sich mit dem Gedanken getragen, das in dem überreichten Briefe erwähnte Landgut vielleicht einmal selbst zu kaufen. Später leuchtete ihm ein, daß ein solcher Anlaß die Ableugnung seines Namens gegenüber einem Manne, dessen Vertrauen und Dienste er in dem Briefe in Anspruch nahm, nicht hinreichend rechtfertige, und so brachte er eine andere Ausrede vor. Er sagte, er habe damals gehört, daß der Amtmann eine Abneigung gegen ihn hege, und ferner, daß derselbe zu jener Zeit krank gewesen sei. Da habe er, Tinius, gewünscht, sich mit Hoffmann auszusöhnen, und weil er gefürchtet habe, daß jener ihn abweise, wenn man ihm den Prediger Tinius melde, so habe er sich unter einem anderen Namen anmelden lassen, um in Hoffmanns Nähe kommen zu dürfen und nun erst dessen Gesinnung und das Maß seiner Versöhnlichkeit zu ergründen.

Fein berechnet war dieser Wink für den Richter, zu erwägen, daß der Amtmann Hoffmann, der diese fatale Geschichte vor Gericht erzählte und beschwor, eigentlich ein Feind des Angeklagten sei und daher wohl nicht recht Glauben verdiene! Aber die Wahrheit lag zu klar am Tage. Alle Einzelheiten des Besuches bei dem Amtmann Hoffmann sind überaus verständlich und nur verständlich, wenn man annimmt, Tinius wollte sich unerkannt und unter fremdem Namen bei Hoffmann einführen, unbedroht durch den Hund ihn in seinem Zimmer allein sprechen, ihn durch den Brief auf Geschäftssachen bringen und irgendwie zur Oeffnung seines Geldschrankes veranlassen, ihn in einem günstigen Augenblick mit dem Mordhammer niederschlagen, alles erreichbare Geld an sich nehmen und mit dem Raube von dannen ziehen. Tinius ließ seinen Mordplan unausgeführt, weil er sich erkannt sah oder die Umstände sonst für ungünstig hielt.

Aber das war noch nicht alles.

Durch den Stiefsohn des Predigers Tinius wurde folgendes zu den Akten gegeben: Ebenfalls im Jahre 1812 trat spät abends ein durch einen großen Mantel verhüllter Mann in die Wohnung der Schwiegermutter des Predigers, einer wohlhabenden Frau, und näherte sich dieser. Vergebens rief sie: „Wer ist Er denn? Was will Er noch so spät?“ Der Unbekannte antwortete nur: „Stille! Stille!“ Die alte Frau rief jedoch entschlossen nach ihrer Dienstmagd, und zum Glück war diese sofort zur Stelle. Jetzt gab sich der Unbekannte als den Prediger Tinius zu erkennen.

Briefe wie diejenigen, welche der Frau Kunhardt und dem Amtmann Hoffmann vorgewiesen worden waren, fand man im Pfarrhause zu Poserna noch fünf. Alle trugen erfundene Namen als Unterschriften, und von allen mußte Tinius einräumen, daß er sie geschrieben und unterschrieben habe. Er behauptete zwar, er habe sie auf Bitten von Leuten geschrieben, die er nicht näher gekannt und denen er doch die Bitte nicht habe abschlagen wollen. Aber wie durfte er sie dann ohne weiteres mit dem fremden Namen unterzeichnen? Es wurde ermittelt, daß wenigstens eine der Adressatinnen eine reiche und alleinstehende Dame war, und die Vermuthung liegt wiederum nahe, daß diese Briefe alle nur den Zweck hatten, die Anknüpfung eines Gespräches zwischen dem Adressaten oder der Adressatin und dem Unbekannten oder Falschbenannten zu vermitteln, eines Gespräches, das dann – mit dem Hammer abgeschlossen werden sollte.

Das Gericht sprach schließlich den Magister Tinius von der Anklage des am Kaufmann Schmidt verübten Raubmordes, so dringend auch der Verdacht gegen Tinius war, vorläufig frei, verurtheilte ihn aber wegen Raubmordes an der Frau Kunhardt zu achtzehnjähriger Zuchthausstrase. Die zweite Instanz setzte dieses Strafmaß unter Berücksichtigung der langen Untersuchungshaft auf zehn Jahre herab. Im Jahre 1823 trat Tinius seine Strafe an, die mit den 2 Jahren Zuchthaus für die Unterschlagung von Kirchengeldern also auf zwölf Jahre bemessen war.

Im Publikum war man, wahrscheinlich mit Recht, der Ueberzeugung, daß die Unthaten und Anschläge des unheimlichen Magisters, welche zur Kenntniß des Gerichtes kamen, nicht die einzigen seien, welche er ausgeführt habe. Wegen der in Thüringen herrschenden kleinstaatlichen Zersplitterung der Rechtspflege und wegen der kriegerischen Zeitläufte mochte manche Nachforschung nach Verbrechen unterblieben sein, die unter anderen Verhältnissen vorgenommen worden wäre. Man erzählte sich z. B. folgenden Vorfall aus dem Jahre 1810 oder 1811: Ein Viehhändler, ein junger kräftiger Mann, reiste an einem heißen Sommertage mit der Post von Querfurt nach Leipzig. Er wollte dort Geschäfte erledigen und trug eine um den Leib geschnallte wohlgefüllte Geldkatze. Außer ihm saß im Postwagen nur noch ein Reisender, der ein Lehrer oder Beamter zu sein schien. Während des Gesprächs, das beide miteinander führten, bot dieser Reisende dem Händler eine Prise an, indem er ihm eine silberne Dose hinhielt. Der Händler griff hinein und schnupfte. Bald darauf klagte er über Schwere im Kopfe und über Schläfrigkeit. „Das kommt von der Sommerhitze,“ sagte der Gefährte mit der Dose; „da, nehmen Sie noch eine Prise, das erfrischt die Lebensgeister.“ Der Händler folgte der freundlichen Einladnug. Als der Postwagen in Leipzig ankam, fand man ihn allein im Wagen und tief schlafend; als er mit Mühe wachgerüttelt war, bemerkte er mit Schrecken, daß seine Geldkatze fehlte. Von den letzten Stunden der Fahrt hatte er nur die Erinnerung, daß er bald nach der zweiten Prise fest eingeschlafen sein müsse. Der Reisegefährte war, wie der Postillon angab, unterwegs schon auf einer der ersten kleinen Stationen ausgestiegen. Die polizeilichen Nachforschungen nach ihm waren vergeblich.

Man wußte noch von drei oder vier ähnlichen Vorfällen, die sich in Zwischenpausen von je einigen Monaten auf der Poststraße zwischen Weißenfels und Leipzig und auf deren Abzweigungen ereignet hatten. Der Beraubte hatte jedesmal neben dem Manne mit der Dose allein im Wagen gesessen, hatte jedesmal eine ihm angebotene Prise genommen und war jedesmal schlafend und allein am Ziele angekommen, um erst dort den geschehenen Raub zu bemerken. Von der Dose und der Prise wußten alle diese Beraubten zu erzählen, aber ihre Angaben über Aussehen und muthmaßlichen Beruf ihres Reisegefährten gingen weit auseinander. Im Volke wurde später der Magister Tinius für diesen Räuber gehalten, und ein Gerücht wollte wissen, daß die Gerichtspersonen, die nach der Ermordung der Frau Kunhardt in der Pfarre zu Poserna Haussuchung hielten, dort Perücken, Bärte und Anzüge zum Verkleiden gefunden hätten, ohne aber besondere Notiz davon zu nehmen.

Weder im Untersuchungsgefängniß noch im Zuchthaus war im Verhalten oder in den Aeußerungen des Magisters Tinius irgend etwas erkennbar, was auf Reue oder Gewissensbisse schließen ließ. Man beschäftigte ihn meist mit schriftlichen Arbeiten, und er war dabei fleißig, ruhig und zufrieden. Religiöse Bedürfnisse schien er nicht zu haben, obwohl er in den Mußestunden, die man ihm gewährte, eine Studie über die Offenbarung Johannis ausarbeitete. Zu allgemeinem Erstaunen überstand er die Zucht hausstrafe und trat nun im Jahre 1835 als angehender Siebziger wieder in die Welt, gebleichten Haares, aber ungebeugten Sinnes. In Thüringen war er mit seiner Dose und seinem Hammer schon bei Lebzeiten fast zur Sage geworden. Jetzt erschien er leibhaftig wieder, und die Nachricht, „Tinius kommt“, ging wie ein Schreckensruf durch das Land. Er lebte von da an in großer Dürftigkeit; seine Familie hatte sich von ihm losgesagt, und seine frühere Gemeinde warf für seinen Unterhalt nur 25 Thaler jährlich aus. Längere Zeit verweilte er im Landarmenhaus zu Zeitz. Hier sprachen ihn zuweilen einige Besucher, und es beglückte ihn, wenn sie ihm eine Erfrischung zukommen ließen, und noch mehr, wenn der Geistliche der Anstalt oder sonst ein gebildeter Mann ein wissenschaftliches Gespräch mit ihm anknüpfte. Seine Vergangenheit und seinen Prozeß zu berühren, vermied er keineswegs; er sprach darüber völlig leidenschaftslos und gelassen und suchte nur zu beweisen, daß alles Böse, was man ihm nachsage und nachgewiesen zu haben meine, lediglich in der Einbildung der Zeugen und Richter bestehe; diese seien in Irrthümern befangen gewesen und durch Trugschlüsse verleitet worden. Nie kam ein Wort des Grolles oder der Verbitterung über seine Lippen. Im Armenhaus blieb er nicht, weil die in der Anstalt herrschende Unruhe und Pünktlichkeit ihm störend wurde. Er lebte, allgemein gemieden, bald in diesem, bald in jenem Dorfe in Thüringen. Hin und wieder verschaffte er sich durch Korrekturen, die er für Druckereien besorgte, einen kleinen Verdienst.

Ein alter Weimaraner, Julius Schwabe mit Namen, hat vor einigen Jahren seine interessanten Lebenserinnerungen veröffentlicht. Wir lesen darin, daß er im Jahre 1838 als Tertianer während der Herbstferien zum Besuch bei einem Onkel weilte, der in Ilmenau in Thüringen Superintendent war. Eines Abends saßen die Bewohner des Pfarrhauses plaudernd zusammen, da

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