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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Endlich zeigte sich wirklich eine Abnahme im Wasserstand, aber auch ihre Kräfte drohten zu erlahmen. Mühselig fuhr sie mit dem Eimer an den Bootsrippen hin, mühselig hob sie ihn auf den Bordrand, und kaum vermochten ihre froststarren Finger den Bügel noch zu umklammern.

Gab es denn keine Hilfe? Der Branntwein – dort in der Ecke mußte er liegen! Richtig, er war noch da!

Sie gab Herbert davon und trank selbst wieder; neue Kraft und neuer Lebensmuth ergossen sich durch ihren Körper. Herbert sagte ihr, wo sie etwas Zwieback und Fleisch finden könne – mit den kalten salzigen Fingern wurde es hastig zum Munde geführt, und auch das verfehlte seine Wirkung nicht. Sie vermochte nun das Wasser vollends über Bord zu schaffen, während Herbert sich kräftig genug fühlte, aufzustehen. Hilde hielt das Ruder, indeß er sich nach vorne begab.

Es gelang ihm mit äußerster Anstrengung, das vorn am zersplitterten Klüverbaum hängende Tau- und Segelwerk wegzuschlagen, ein Reservesegel als Nothklüver zu befestigen, sowie schließlich das Großsegel zu kürzen und leidlich steif zu setzen.

So rasch er diese Arbeiten am lichten Tage bei ungeschwächter Kraft vollzogen hätte – jetzt nahmen sie fast Stunden in Anspruch. Stumm saß Hilde während dieser Zeit am Ruder, es so drehend, wie ihr befohlen wurde.

Nach gethaner Arbeit begab sich Herbert, trotz der Kälte schweißtriefend, zu ihrer Ablösung nach hinten; sorglich hüllte er sie in Frettwursts Jakett, das er eben glücklich im Vorluk verstaut gefunden hatte.

Und nun ein wilder Augenblick, der des Beidrehens, das bei der Strandungsgefahr sich nicht länger verzögern ließ. Aber die Segelreparatur bewährte sich; wohl stürzten ein paar rauhe Brecher während des Anluvens über die „Bachstelze“ weg, dann jedoch ritt sie verhältnißmäßig ruhig auf den gewaltigen Seen.

Als die neue Lage stetig geworden war, nahm Herbert beim Steuern Hilde in seinen Arm. Er küßte ihre eisigen Lippen und sprach ihr Trost zu, und ihre Arme um ihn schlingend, schloß sie die Augen. Ihre Kraft war zu Ende, sie meinte, nun komme der Tod. Aber es war nur die erlösende Vergessenheit des Schlummers, welche sie umfing.

Der orkanartige Wind ließ noch immer nicht nach; wilder und wilder heulte er daher. Herberts gefaßtes Wesen entsprang mehr dem Bewußtsein, gethan zu haben, was er konnte, als der Hoffnung auf Rettung.

Glücklicherweise hatte er noch mehr Branntwein gefunden. Er trank viel davon, sonst wäre es ihm unmöglich gewesen, nach der heißen Arbeit, in dünnen nassen Kleidern der Kälte und dem Sturme ausgesetzt, das stundenlange Stillsitzen zu ertragen. Sein Herz hämmerte, und in der Wunde stach es schmerzhaft. Hildes Nähe war ihm köstlich, allein er fühlte, wie sie im Schlafe gleich Espenlaub bebte. Er band das Ruder einen Augenblick fest und untersuchte den kleinen Kajütenraum. Zu seiner freudigen Ueberraschung war dieser leidlich trocken geblieben. Nachdem er die Polster zu einem engen notdürftigen Lager zusammengeschoben hatte, trug er das Mädchen, das nur halb erwachte, hinein. Eilig eilig mußte er sein, da das Ruder seine Hand gebieterisch forderte.

Als er Hilde sanft niedergelegt hatte, eine Sekunde noch neben ihr knieend, schlang sie müde und halb bewußtlos ihren Arm um ihn. Sachte schob er ihn von sich ab und kroch zurück an das Steuer.

Regungslos saß er dort allein. Stunden vergingen. Ihm schien es, als sei er gestorben, als sei seine Seele dazu verdammt, durch ewige Finsterniß, durch endlose Räume so hinzujagen, vor sich den Sarg mit den Gebeinen der einst Geliebten.

Endlich, endlich verwandelte sich die Nacht in ein fahles Grau. Er erkannte die Kompaßstriche und wußte jetzt, woher der Wind kam, in welcher Richtung der Kutter trieb. Es war so, wie er es sich gedacht hatte.

Immer weiter vermochte er über die dunkelbrausende Fläche fortzublicken. An einer Stelle röthete sich der Himmel – die Sonne ging auf! Doch blieb sie durch die Wolken verdeckt, nur ein kaltes graues Zwielicht brachte sie hervor.

Dort die niedrige Nebelbank, auf die er sich zubewegte – war das Land? Und welches? O, wenn er dort in stilles Wasser gelangen, landen könnte! Oder lauerte da die Brandung?

Ueber Erwarten schnell bestätigte sich die Landnähe. Im trüben Dunst vermochte Herbert durch sein Glas ein ihm fremdes Hügelgelände mit Feldern, Wald und einzelnen Häusern zu erkennen. Nirgends ein Leuchtthurm oder sonst ein Merkzeichen, aber hier – ein endloser weißer Streifen – die Brandung!

Umsonst die Hoffnung und die höchste Gefahr im Verzuge! Nun galt es, so rasch als möglich durch den Wind zu gehen! Segel wegzunehmen war nicht mehr möglich; es kam allein darauf an, ob die „Bachstelze“ und ihr Mast das Wagniß aushalten würden.

Herbert warf einen kurzen wüthenden Blick auf die Küste, einen langen bangen auf die geschlossene Kajüte, dann begann er, die Zähne zusammenbeißend, das Manöver.

Das gab einen Tanz! Die von unsichtbarer Riesenfaust niedergedrückte Takelage krachte, das Fahrzeug bebte in allen Fugen, wenn es, im verzweifelten Ringen sich Bahn brechend, die Wogen aufs Haupt schlug, alles um sich her in Gischt verwandelnd.

Durch das plötzliche heftige Arbeiten des Bootes wurde Hilde geweckt. In ihrem Kopfe toste es; sie begriff nicht, in welcher Lage sie sich befand, nur daß diese schrecklich sein müsse, ahnte ihr. Nach und nach fand sie sich zurecht, und nun wollte sie keine Minute länger liegen bleiben – sie mußte zu ihm!

Mühsam raffte sie ihre steifen zerschlagenen, von den nassen Gewändern wie in einen Panzer geschnürten Glieder auf, stieß die Thüre zurück und kroch hinaus. Aber kaum hatte sie den Kopf über Bordhöhe erhoben – noch ehe sie Herberts dringenden Ruf, zu bleiben, verstanden hatte – war sie in einem brausenden Wasserschwall förmlich begraben. Eine mächtige, über das Kajütendeck schwemmende Woge schickte ihr diesen Morgengruß. Halb erstickt ward sie durch die nächste Bewegung zu Herberts Füßen niedergeschleudert.

Zu seiner Qual war es ihm unmöglich, ihr beizuspringen. Er hatte vollauf zu thun, mit äußerster Kraft Kurs zu halten.

„Hilde, ich beschwöre Dich, geh’ hinein!“ rief er. „Du kannst hier nichts nützen und setzest Dein Leben aufs Spiel!“

Sie schüttelte den Kopf. Erschien auch alles ringsum noch so fürchterlich, sie sah doch das Licht des Tages, sie sah ihn! Lieber hier in Nässe und Tod als einsam drinnen in dem dumpfen grabartigen Raum!

„Bitte, laß mich!“ flehte sie.

Da er ihr schon zu Willen sein mußte, begnügte er sich damit, sie sich so niederducken zu lassen, daß die wilde See sie nicht leicht über Bord spülen konnte.

„Hast Du geschlafen, Kind?“

„Ja. Aber Du nicht! – O, wie entsetzlich ist das alles! Wo sind wir denn?“

Er zuckte die Achseln. Doch um sie zu trösten, sagte er: „Nicht weit vom Land! Ich hoffe, wir finden einen Hafen.“

„Wo, wo ist Land?“ Erregt hob sie den Kopf über den Bordrand. „O, wir sind ja schon ganz nahe, Geliebter! Der Himmel sei gepriesen! Aber warum fahren wir davon weg, statt darauf zu?“

Herbert warf einen grauenerfüllten Blick zur Küste hinüber. Ganz nahe – wahrhaftig, sie hatte recht! Und das trotz der unerhörten Anstrengung, frei zu kommen! Eine starke Strömung mußte auf das Land zu setzen, sonst blieb die Verringerung der Entfernung unerklärlich. Dennoch zwang er sich, mit möglichster Ruhe zu antworten. „Weil wir hier nicht landen können, Hilde. Sieh ’mal, das Land macht dort vorn einen Bogen, um den müssen wir herum! Seitwärts und rückwärts umschließt uns überall der weiße Streifen. Nichts als Brandung, soweit man sieht!“

Hilde schaute ihn eine Sekunde starr und aufmerksam an, dann sagte sie merkwürdig gelassen: „Du glaubst also, daß wir doch sterben müssen, Herbert?“

Er schwieg.

Sie umklammerte seine Knie. „Herbert, ich sterbe gern mit Dir! Ich meine, wir haben schon zu viel gelitten. Wenn es nur aus wäre, so oder so! Mehr dürfen wir nicht wünschen.“

Er schüttelte die Weichmüthigkeit, die ihn ankam, von sich ab; fast rauh kam es ihm aus der Kehle: „In Gottes Namen ja, Hilde! Wir wollen unser gemeinschaftliches Ende mit Festigkeit ertragen, wenn es uns nicht erspart werden soll. Nur“ – seine Stimme zitterte – „daß Du – daß ich, ich, Dein Mörder –“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_080.jpg&oldid=- (Version vom 2.6.2020)