Seite:Die Gartenlaube (1893) 079.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Aber nicht an sich dachte sie. Als ihr Taschentuch und seines von dem Blut vollständig durchtränkt war und sie nichts mehr zu einem Verband besaß, riß sie ihr Kleid auf und suchte von ihrem Hemd ein Stück Linnen abzureißen. Allein das Gespinst war zu stark. Entschlossen holte sie ihr kleines Messer hervor, ein paar Schnitte und ein Verbandstreifen war frei! Sorglich wickelte sie ihn um Herberts blutiges Haupt. Dann richtete sie den Geliebten, soweit ihre Kraft reichte, an dem geschütztesten Punkt unter der Bordwand auf und drückte ihr zusammengerolltes wollenes Tuch zur Stütze unter seinen Nacken.

Nun erst besann sie sich auf die ihr als einzigem Führer des Bootes zukommenden Pflichten und nun erst spürte sie die Nässe an den Füßen und die Kälte am offenen Hals. Sie knöpfte das Kleid zu. Das Verständniß ihrer Lage erwachte und damit die Todesangst.

An den Bordrand sich klammernd, starrte sie hinaus in die tobende Fluth. Nirgends ein Schiff, nirgends Rettung! Nur das Jagen der schwarzen Wolken und die brausenden stürzenden Wogen!

Was sollte sie thun? Sie wußte es nicht. Sie wollte das Steuer in die Hand nehmen, doch es stand wie festgenagelt, keinen Zoll brachte sie es aus seiner Lage. Und zu allem Unheil fegte nun auch noch ein Regenschauer herunter. Da glitt sie wieder an die Seite des Geliebten auf den von plätscherndem Wasser bedeckten Boden. Stumm preßte sie ihre kalte Wange an sein blutiges Gesicht. Mochte der Tod kommen, sie war bereit!

Und weiter raste das Fahrzeug mit den beiden Opfern ins Dunkel hinaus.

Doch nach einer Viertelstunde grauenvollen Harrens erwachte die Lust zum Leben aufs neue in Hildes Brust. Sie erinnerte sich des Ortes, an den Frettwurst den Branntwein gestellt hatte. Mit Mühe öffnete sie die Kajüte, in die sie den Geliebten so gern hineingeschleppt hätte, wenn er nicht zu schwer gewesen wäre, und holte die Flasche aus dem Regal.

Soweit es die heftigen Bewegungen des Kutters erlaubten, flößte sie Herbert von dem Getränke ein. Viel war es nicht, aber doch etwas. Dann rieb sie seine Stirn über der Wunde mit dem feurigen Getränk und schließlich nahm sie selber einen Schluck, der ihr in der Kehle brannte, aber ihre Kräfte wundersam belebte.

Eben hatte sie die Flasche, damit das kostbare Gut nicht fortrolle oder zerbreche, sorglich in einer Ecke festgelegt, als es plötzlich ein Krachen und einen starken Knall gab und durch den Rumpf der „Bachstelze“ ein Ruck ging, als sei sie gegen einen Fels gerannt. Hilde sah, wie vorn wüthend ein Segel hin und her schlug, dessen Losreißen die Erschütterung bewirkt haben mußte. Unmittelbar darauf erfolgte ein zweiter, noch heftigerer Knall dicht neben ihr, und dasselbe wilde Schlagen mit dem unteren Theil des Großsegels begann, während es oben straff gespannt blieb. Und sofort richtete sich die „Bachstelze“ erleichtert auf und lag nun ruhiger.

Dafür begann aber das Steuerruder unruhig zu werden, der Kutter drehte sich nach der Windseite und zurück, ein paar gewaltige Sturzseen donnerten auf das Vordeck, dieses völlig im Wasser begrabend, und ergossen sich dann in Strömen hinten in den offenen Bootsraum. Hilde vermochte nicht zu unterscheiden, ob die Gefahr geringer oder größer geworden sei. Das letztere erschien ihr wahrscheinlicher. Doch ihre Gedanken wurden schnell wieder abgelenkt, denn – Herbert regte sich!

Ein stürmisches Gefühl von Hoffnung und Glück durchströmte sie. „Herbert, wach’ auf! Ich bin bei Dir! Nur einmal schau mich an!“

Und der Lieutenant schlug wirklich die Augen auf. Es war schon stark dämmerig geworden, aber Hilde vermochte die theuren Züge noch deutlich zu erkennen. Seine Lippen bewegten sich. „Hilde, ich komme!“ stammelte er, offenbar noch ohne volles Bewußtsein.

Sie griff nach der Flasche. „Rasch, trink, das wird Dir helfen!“

„Ah!!“ Herbert dehnte sich; der Feuertrank wirkte. Dann griff er nach seinem Kopf und stöhnte. „Mein Himmel – was ist denn mit mir passiert? Steuerst Du noch? Wo ist Frettwurst?“

Wind, Wogen und Segel nebst den schlagenden Holzkloben des Tauwerkes machten einen solchen Lärm, daß sie ihr Ohr über seinen Mund neigen mußte, um ihn zu verstehen.

„Frettwurst ist am Lande zurückgeblieben, Du selbst hattest eine Ohnmacht!“

Wieder strömte eine Woge über das Fahrzeug fort; die kalte Fluth, die hereindrang, brachte ihn vollends zur Besinnung.

„Hilde, wo sind wir? Es ist ja dunkel und der Kutter voll Wasser!“

„Wir sind mitten auf dem Meere, Herbert – in Gottes Hand.“

„Auf dem Meere? Du – Du, in solcher Lage!“

„Sie ist nicht mehr schlimm, da Du lebst! Alles andere ist nichts!“

Er richtete sich mühsam auf. Ja, er lebte und sie auch, aber wie lange noch? Mit einem einzigen Blick hatte sein geübtes Auge die Gefahr in ihrer ganzen Schrecklichkeit erfaßt. Von Hilde unterstützt, raffte er sich empor, dann, auf die Steuerbank niedertaumelnd, klammerte er sich mechanisch an, um nicht fortgespült zu werden.

Jetzt erinnerte er sich seines Unfalls und warum Frettwurst fehlte; das übrige erfuhr er durch Hilde. Sie also die ganze Zeit im Angesicht des Todes allein, trotz aller eigenen Qual den Besinnungslosen verbindend, wärmend, rettend! Dieser Gedanke gab ihm seine ganze Willenskraft zurück.

Nachdem er einen Augenblick das herrenlose Fahrzeug gemustert hatte, wußte er, was thun. Mit zitternden Fingern, unter Hildes Beistand machte er das Steuerruder frei, das jetzt weniger Widerstand leistete, und bald gelang es ihm, die „Bachstelze“ vor den Wind zu bringen. Das war eine Wohlthat! Hilde schaute bewundernd auf die Hand des kundigen Meisters.

Leider fühlte sich dieser noch zu schwach, um die Schäden auszubessern; er mußte vorläufig alles hängen lassen, wie es hing. Nur immer geradeaus konnten sie jagen. – Wenn aber die freie See aufhörte, wenn man auf die brandende Küste stieß, die hier überall nahe war – was dann?

Herbert spähte ängstlich voraus in das Dunkel. Noch zeigte sich nichts von Brandung. O daß sie doch weit, weit die offene See vor sich hätten und damit die einzige Möglichkeit, sich bis Tagesanbruch zu halten!

An dem nachtschwarzen Himmel ließ sich kein Stern erblicken, die Kompaßlaterne vermochte er mit den naß gewordenen Streichhölzern nicht anzuzünden – er hatte nicht den leisesten Anhalt, welcher Himmelsrichtung der Kutter folge. Und dabei diese Kälte in den Gliedern, dieses wahnsinnige Brennen im Kopf!

Hilde war neben seinen Knieen niedergesunken und schmiegte sich an ihn; mit vollem Vertrauen suchten ihre Augen die seinigen, während ihr nasser Körper vom Frost geschüttelt wurde. Sie fürchtete sich nicht mehr, nur ihr Körper litt. Und selbst wenn einer der gespenstischen Riesen, die gierig hinter ihnen drein stürzten, sie beide verschlungen haben würde, sie hätte sich nur fester an den Geliebten geklammert, aber lautlos das Ende erlitten.

Durch Herberts glühendes Hirn jagten die Gedanken wie formlos sich zusammenballendes und wieder zerreißendes Gewölk. Was hatte er gethan! Dieses blühende unschuldige Kind dem Tode in die Arme getrieben, in Qualen gestürzt, die, selbst wenn sie gerettet wurde, die Gesundheit des zarten Körpers für immer untergraben könnten! Dann bedachte er sein eigenes Geschick.

Der Tod ist der beständige Begleiter des Seemanns, was liegt daran, ob er früher oder später zugreift! Aber wie hart, all den glänzenden Zukunftsträumen entsagen zu müssen, fast ehe sich nur einer erfüllt – klanglos, ruhmlos hier unterzugehen! Wenn es wenigstens im Krieg, in der Schlacht fürs Vaterland gewesen wäre! – Und seine Eltern! Die Armen! Welche Hoffnungen brachen ihnen nieder, welcher bleierne Schmerz lastete dann über ihrem Alter! Und Hildes Eltern? Wie jäh vernichtet das harmlose Glück, das an ihrem Herde geweilt!

So drängten sich blitzartig seine Vorstellungen, von Hilde ausgehend und bei ihr endigend. Und nun erst sah er, daß sie halb im Wasser liege, daß es unmöglich länger so fortgehen dürfe. Er faßte ihre kalte Hand.

„Hilde, hast Du Kraft genug, Wasser auszuschöpfen?“

„Ja.“

„Hier, unter meinem Sitze, befindet sich ein kleiner Eimer – dort, wo das Thürchen ist. – Ja, da!“

Tastend fand sie das Gesuchte. Sie machte sich ans Werk. Es war schwer, schwer! Zuerst schien ihre Arbeit ganz nutzlos zu sein, so wenig vermochte sie auszugießen, so viel wogte im Raum umher. Doch die Bewegung that ihr besser als das stille Liegen.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_079.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2021)