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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


Zur Entdeckung des Thäters bot sich diesmal ein Anhalt zunächst in den weiteren Wahrnehmungen und Aussagen der Kunhardtschen Dienstmagd. Als diese nämlich von jenem Gange, während dessen der Mordanfall geschehen sein mußte, gegen halb 9 Uhr zurückkam, begegnete ihr im Hausflur, kurz bevor sie das ängstliche Rufen der Frau Kunhardt hörte, von der Treppe herabkommend ein in einen blauen, am Schlitz mit Knöpfen versehenen Reitmantel gekleideter und mit dunkler Kopfbedeckung versehener bartloser Mann, der ihr von Ansehen bekannt war. Auf seinen Namen konnte sie sich nicht besinnen, aber sie hatte ihn wiederholt in dem H.schen Gasthofe in Leipzig gesehen, in dem sie früher gedient hatte. Sie erinnerte sich, daß er „Herr Magister“ angeredet worden war. Der Titel eines Magisters der freien Künste war mit dem Doktortitel etwa gleichwerthig, und es kam häufig vor, daß Theologen und Philologen ihn erwarben, wie sie heute den Doktortitel erwerben.

Dieser Mann nun mochte der Magd anmerken, daß sie ihn kannte, wie er seinerseits sie ebenfalls wiedererkannt hatte. „Ei, guten Morgen,“ sagte er beim Begegnen, „das ist ja die Köchin, die bei H. gedient hat. Kommen Sie oder gehen Sie erst, und wann kommen Sie wieder?“ Die Magd antwortete, daß sie zurückkomme und wieder nach oben gehe. Der Mann, der sehr aufgeregt zu sein schien, entfernte sich darauf in großer Eile.

Naturgemäß lenkte sich auf diesen Fremden der Verdacht, umsomehr, als die Magd sich entsann, ihn bereits zwei Tage früher, am Sonnabend den 6. Februar, unter auffälligen Umständen im Hause gesehen zu haben, eine Wahrnehmung, welche durch eine unten im Hause wohnende Kutscherfrau bestätigt wurde. Am Sonnabend Vormittag hatte nämlich der Mann im blauen Mantel die Kutscherfrau im Hausflur gefragt, ob hier Frau Kunhardt wohne, und sie hatte ihn nach oben gewiesen. Da sie eben auf dem Boden des Hauses zu thun hatte, folgte sie ihm, während er die Treppen hinaufging. Auf der vierten Treppe sagte sie zu ihm: „Hier wohnt die Madame, nach der Sie mich fragten.“ In diesem Augenblick öffnete die Kunhardtsche Magd die Thür der Kunhardtschen Wohnung in der Meinung, daß der Brotverkäufer gekommen sei. Anscheinend in Verlegenheit hatte der Mann darauf gesagt. „Nein, bei einer Frau Dr. Kunitz wollte ich einen Brief abgeben.“ Die beiden Zeuginnen hatten ihn darauf nach einem tiefer gelegenen Stockwerk gewiesen, wo der Hauswirth Dr. Kunitz wohnte; aber sie konnten bemerken, daß der Mann an der Kunitz’schen Wohnung vorüberging und das Haus verließ. Die Kutscherfrau hatte damals geäußert, daß er gewiß die Absicht gehabt habe, zu stehlen oder die Gelegenheit zu einem Diebstahl auszukundschaften.

Am Rheinufer zu Rhense.
Originalzeichnung von R. Püttner.

Auf die Angaben der Kunhardtschen Magd hin forschte die Behörde bei dem Gastwirth H. nach den Namen der Magister, die früher und etwa zur Zeit des Mordes bei ihm abgestiegen waren. Es befand sich darunter auch der Magister Tinius, Pfarrer zu Poserna bei Weißenfels. Er hatte die Nacht vom 5. zum 6. und dann wieder die vom 7. zum 8. Februar im H.schen Gasthof zugebracht, war an dem verhängnißvollen Morgen von 8 bis 9 Uhr zur Erledigung von Besorgungen, wie er dem Wirthe erzählt hatte, abwesend gewesen und am Nachmittag wieder abgereist. Die Beschreibung, welche die Zeuginnen von dem Manne im blauen Mantel entwarfen, schien auf den Magister zu passen. Da aber den Behörden bisher nichts Nachtheiliges über ihn bekannt war, so wollten sie große Vorsicht anwenden und zunächst der erwähnten Magd Gelegenheit geben, den Magister Tinius möglichst unauffällig zu sprechen, damit sie sich überzeuge, ob er wirklich der Magister sei, den sie am 6. und 8. Februar im Kunitz’schen Hause gesehen hatte. Ein Gerichtsbeamter wurde mit ihr nach dem etwa 4 Meilen von Leipzig entfernten Poserna geschickt, und beide sollten sich unter einem Vorwand bei dem Pfarrer einführen. Als sie in das Pfarrhaus treten wollten, kam Tinius gerade aus der Hausthür. Sofort erkannte die Magd in ihm den verdächtigen Mann wieder, und auch er gerieth bei ihrem und ihres Begleiters Anblick sichtlich in Verlegenheit. „Woher sind Sie?“ fragte er mit einem Blick auf die Magd. Dann gab er sich selbst schnell die Antwort: „Ach, aus Weißenfels.“ Daß er sie jetzt nach Weißenfels versetzen wollte, während er sie im Dienst in Leipzig wußte, war auffällig. Wenn er im Kunitz’schen Hause sie als Bekannte begrüßt und das oben mitgetheilte kurze Gespräch mit ihr geführt hatte, so war das vielleicht deshalb geschehen, weil ihm das unerwartete Zusammentreffen die Geistesgegenwart geraubt hatte; denn ein schnelles und stummes Vorübereilen wäre wohl rathsamer gewesen als das Anknüpfen eines noch so kurzen Gespräches; vielleicht wollte er auch den Schein der Unbefangenheit wahren, da er sich von der Magd doch einmal erkannt sah. Jetzt, in Poserna, mochte er die Gefahr richtiger schätzen, die ihm aus jener Erkennungsscene auf dem Flur des Kunitz’schen Hauses erwachsen konnte.

Da Tinins Geistlicher war, so durfte seine Verhaftung, welche von der richterlichen Behörde nunmehr beschlossen wurde, nach damaligem Gesetz nur mit der Zustimmung des Konsistoriums vorgenommen werden. Nachdem diese eingeholt war, wurde er am 4. März 1813 nachts verhaftet und in das Untersuchungsgefängniß nach Leipzig gebracht. Aber erst im März 1814 erfolgte der gerichtliche Beschluß, den Kriminalprozeß gegen ihn zu eröffnen. Dieser Beschluß hatte zunächst die Folge, daß Tinius, wie es das Gesetz vorschrieb, seines geistlichen Amtes öffentlich und feierlich entkleidet wurde. Am 31. März fand dieser Akt in der Nicolaikirche in Leipzig statt, in Gegenwart geistlicher und weltlicher Behörden und zahlreicher Zuschauer. Der Superintendent Rosenmüller hielt eine ergreifende Rede, und dann wurden dem angeschuldigten Prediger von einem Kirchendiener Priesterrock und Halskragen abgenommen, worauf die Ueberweisung des vormaligen Geistlichen an die weltlichen Gerichte erfolgte. Tinius stand bei dieser furchtbaren Feierlichkeit aufrecht und unerschüttert.

Nach den Bestimmungen des Wiener Kongresses ging nun eben damals ein großer Theil des Königreichs Sachsen an die preußische Krone über, und auch Poserna wurde preußisch. Die Regierungen von Sachsen und Preußen kamen überein, daß die vor sächsischen Gerichten schwebenden Prozesse derjenigen Angeschuldigten, deren Wohnort an Preußen abgetreten war, vor preußischen Gerichten zu Ende geführt werden sollten, und so wurde der Magister Tinius an preußische Gerichtsbehörden ausgeliefert. Dieser Umstand erschwerte das Gerichtsverfahren erheblich, da das zur Untersuchung stehende Verbrechen in Leipzig, also einer nicht-preußischen Stadt, begangen war. Ein weiterer Anlaß zu Verzögerungen lag in dem damaligen Gerichtsverfahren und seinen langwierigen Förmlichkeiten. Eine eigentliche Hauptverhandlung fand gar nicht statt, wenn man nicht die Urtheilsfällung selbst so nennen will. Vielmehr zerfiel das ganze Verfahren in eine große Zahl von einzelnen, stets unter Ausschluß der Oeffentlichkeit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 77. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_077.jpg&oldid=- (Version vom 1.6.2020)