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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Das „reizende Thierchen“ zeigte sich aber leider sehr unzugänglich für diese Liebkosung und fuhr mit lautem Gebell nach den Beinen des jungen Mannes. Dieser sprang zurück, jedoch Puck setzte ihm nach und packte die Karrierten mit den Zähnen. Der Angegriffene, der den Hund des gnädigen Fräuleins nicht abzuwehren wagte, flüchtete hinter die Blumenkübel, an seinen Fersen den Verfolger, der es nun einmal auf seine Beine abgesehen hatte, während Maja, anstatt den Hund zurückzurufen, sich höchlich an der Scene ergötzte.

Glücklicherweise kam jetzt Hilfe von einer anderen Seite. Aus der Thür, die zu Dernburgs Zimmern führte, trat ein älterer Herr, der ohne weiteres den noch immer kläffenden Spitz an seinem weißen Fellchen packte und emporhob, während er zugleich ärgerlich rief: „Warum greifst Du denn nicht zu, Dagobert, willst Du Dir gutwillig die Beinkleider zerreißen lassen?“

Dagobert stand athemlos unter einem Lorbeerbaum und sah sehr erleichtert aus. Jetzt kam auch Maja herbei.

„Lassen Sie den Missethäter gnädigst laufen, Herr Doktor Hagenbach,“ rief sie lachend. „Es wäre Ihrem Neffen wirklich nicht ans Leben gegangen – Puck hat in seinem ganzen einjährigen Dasein noch keinen Menschen zerrissen.“

„Es ist auch genug an den Beinkleidern, vollends wenn sie so geschmackvoll sind wie die eben gefährdeten,“ versetzte Doktor Hagenbach munter, indem er das winzige zappelnde Geschöpfchen niedersetzte. „Guten Tag übrigens, Fräulein Maja! Nach Ihrem Befinden brauche ich mich wohl nicht erst zu erkundigen?“

„Nein, danach ist heute schon genügend gefragt worden,“ versicherte die junge Dame mit einem muthwilligen Blick auf Dagobert. „Und nun, guten Morgen, meine Herren, ich muß schleunigst zu meinem Papa!“ Mit einem übermüthigen Gruße flog sie davon, nach den Zimmern ihres Vaters.

Doktor Hagenbach, der Arzt von Odensberg und Hausarzt der Dernburgschen Familie, war ein Mann von fünf- oder sechsundvierzig Jahren, dessen Haar sich schon hier und da grau zu färben begann und dessen Gestalt einigermaßen zur Fülle neigte, im übrigen eine ganz stattliche Erscheinung, sehr im Gegensatz zu seinem Neffen, an den er sich jetzt wandte. „Eine rechte Heldenrolle, die Du da gespielt hast!“ spottete er. „Das ausgelassene kleine Ding wollte ja nur spielen, und Du gehst durch!“

„Ich wollte den Liebling des gnädigen Fräuleins nicht so rauh anfassen,“ erklärte Dagobert, indem er besorgt seine Beinkleider musterte, die glücklicherweise keinen Schaden genommen hatten. Der Onkel zuckte nur die Achseln.

„Wir werden den beabsichtigten Besuch bei Fräulein Friedberg heute kaum machen können,“ sagte er dann. „Wie ich eben höre, werden die Herrschaften aus Nizza schon gegen ein Uhr erwartet und das ganze Haus ist auf den Beinen zu ihrem Empfange. Da wir aber einmal hier sind, will ich doch versuchen, das Fräulein zu sprechen, Du kannst inzwischen Deinen inneren und äußeren Menschen wieder in Ordnung bringen.“

Er stieg die Treppe hinauf und traf oben mit Leonie zusammen, die eben über den Flur ging. Sie sah den Arzt, der in langgjährigen freundschaftlichen Beziehungen zu dem Dernburgschen Hause stand, beinahe täglich, dennoch lag in ihrem Wesen eine merkliche Zurückhaltung, als sie seinen Gruß erwiderte. Hagenbach schien das nicht zu bemerken, er fragte flüchtig nach ihrem Befinden, hörte ebenso flüchtig die Antwort an und sagte dann:

„Ich komme heute aus besonderen Gründen zu Ihnen, mein Fräulein. Die Zeit ist zwar schlecht gewählt, denn Sie sind wahrscheinlich auch von dem Empfang der erwarteten Gäste in Anspruch genommen, aber meine Bitte ist in wenigen Minuten erledigt, also erlauben Sie mir, sie Ihnen hier zwischen Thür und Angel vorzutragen.“

Sie haben eine Bitte an mich?“ fragte Leonie, mit kühler Verwunderung. „Wirklich?“

„Sie meinen, weil ich sonst nur Befehle und Vorschriften zu ertheilen pflege? Ja, mein Fräulein, das ist das Recht des Arztes, er muß unter allen Umständen seine Autorität wahren, besonders wenn er es mit sogenannten ‚nervösen‘ Kranken zu thun hat.“

Er betonte das Wort „nervös“ in einer Weise, die seine Zuhörerin offenbar reizte, denn sie entgegnete anzüglich:

„Nun, ich glaube, Ihre Autorität bleibt unangefochten, dafür bürgt Ihre rücksichtsvolle Art, sich Gehorsam zu verschaffen.“

„Je nachdem – ich kenne Patienten, bei denen alle Liebesmüh’ verloren ist,“ erwiderte Hagenbach gelassen. „Aber nun zu meinem Anliegen. Sie kennen meinen Neffen, der seit drei Wochen in Odensberg ist?“

„Den Sohn Ihres Bruders, jawohl! Der junge Mann besitzt ja wohl keine Eltern mehr?“

„Nein, er ist Doppelwaise und ich bin sein Vormund, habe überhaupt die Sorge für seine Zukunft übernehmen müssen, denn seine Eltern sind so pflichtvergessen gewesen, ihm auch nicht einen Pfennig zu hinterlassen. Sie meinten wahrscheinlich, daß ich als Junggesell und angehender Hagestolz einen Erben brauchen könnte.“

Leonies Gesicht verrieth deutlich, daß sie diese Art, sich auszudrücken, sehr unzart fand, der Doktor sah das auch, aber er kümmerte sich nicht im geringsten darum, sondern fuhr in demselben Tone fort:

„Das Gymnasium hat Dagobert nun hinter sich, das Abiturientenexamen hat er gemacht, obwohl mit Ach und Krach, denn ein besonders heller Kopf ist er nicht. Nun sieht er jämmerlich aus von dem Stubensitzen und dem fortwährenden ‚Büffeln‘. Denken Sie, der Junge ist auch schon nervös oder bildet sich wenigstens ein, es zu sein, deshalb habe ich ihn in die Kur genommen. Ich werde ihm die Nerven schon abgewöhnen.“

„Dann will ich nur hoffen, daß der junge Mann die Kur auch wirklich aushält,“ sagte das Fräulein scharf. „Sie lieben die Gewaltmittel, Herr Doktor!“

„Wo sie am Platze sind, allerdings. Uebrigens werde ich meinen Neffen nicht gerade umbringen, wie Sie zu fürchten scheinen. Er soll den Sommer über hier bleiben und sich erholen, ehe er auf die Hochschule geht. Wenn der Junge aber gar nichts zu thun hat, verfällt er auf allerlei Dummheiten, deshalb soll er wenigstens etwas Sprachen treiben, neuere Sprachen natürlich. Latein und Griechisch haben sie ihm eingetrichtert, aber mit dem Englischen und Französischen sieht es sehr schwach aus, und da wollte ich nun anfragen, ob Sie die Güte haben wollten, ihm darin etwas nachzuhelfen. Sie sprechen ja beides vorzüglich.“

„Wenn Herr Dernburg nichts dagegen hat –“

„Herr Dernburg ist einverstanden, ich habe soeben mit ihm darüber gesprochen – es fragt sich nur, ob Sie wollen. Ich weiß zwar, daß ich bei Ihnen nicht sehr in Gnaden stehe –“

„Bitte, Herr Doktor,“ unterbrach ihn das Fräulein kühl. „Ich freue mich sehr, daß Sie mir Gelegenheit geben, mich dankbar zu beweisen für den ärztlichen Beistand, den Sie mir schon verschiedenemal geleistet haben.“

„Bei Ihren ‚Nervenzufällen‘, jawohl. Nun, dann wäre die Sache ja in Ordnung. Dagobert, Junge, wo steckst Du denn? Komm’ herauf!“

Er rief die letzten Worte mit Kommandostimme die Treppe hinab. Leonie schrak dabei förmlich zusammen und meinte mißbilligend: „Sie behandeln den jungen Mann noch völlig wie einen Schulknaben.“

„Soll ich etwa mit dem Jungen besondere Umstände machen? Er möchte allerdings schon gar zu gern den Herrn spielen – und dabei wird er roth und stottert, sobald er mit einem Fremden spricht! – Nun, da bist Du ja, Dagobert! Das Fräulein will die Güte haben, Dich als Schüler anzunehmen. Bedanke Dich!“

Dagobert machte wieder eine ungemein tiefe und ehrfurchtsvolle Verbeugung, wurde wieder roth und begann:

„Ich bin dem Fräulein sehr dankbar – ich freue mich außerordentlich – ich kann gar nicht sagen, wie ich mich freue –“

Da blieb er stecken, Leonie aber kam seiner Verlegenheit zu Hilfe und wandte sich freundlich zu ihm.

„Ich werde Ihnen keine strenge Lehrerin sein und ich denke, wir werden miteinander fertig werden, Herr Hagenbach.“

„Sagen Sie doch einfach ‚Dagobert‘,“ unterbrach sie der Doktor in seiner rücksichtslosen Weise. „Er hat doch nun einmal den vertrakten Namen.“

„Haben Sie an dem Namen etwas auszusetzen? Ich finde ihn sehr schön.“

„Ich ganz und gar nicht,“ erklärte Hagenbach, ohne auf die tiefbeleidigte Miene seines Neffen zu achten. „Von Rechts wegen hätte der Junge Peter heißen müssen, so heiße ich nämlich, und ich bin sein Pathe. Aber das war meiner Frau Schwägerin nicht poetisch genug, und so verfiel sie auf den ‚Dagobert‘. ‚Dagobert Hagenbach‘ – es ist zum Zungenbrechen!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_054.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)