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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Theilnahme seines Gastes war sichtlich erlahmt. Unaufhörlich suchten dessen Augen ein Zeichen der Verständigung aus denen des stumm dasitzenden Mädchens zu erhaschen – vergebens!

Frau Jaspersen hatte sich einen Augenblick entfernt. Als sie jetzt vom Hause her ihren Mann zu sich rief, benutzte Herbert den günstigen Augenblick, um seiner Nachbarin zuzuflüstern: „Tausend Dank für Ihr Schweigen! Verzeihen Sie mir! Bitte, bitte!“

Die dunkeln Wimpern hoben sich; ein rührend vorwurfsvoller Blick streifte ihn, ein Blick, so erfüllt von Qual und Scham, daß es ihm ordentlich ins Herz schnitt. Er wollte fortfahren, aber Herr Jaspersen kehrte zurück und rief schon von weitem:

„Hilde, Mama will Dich sprechen!“

Wie ein Pfeil schoß das Mädcheu davon, offenbar froh, einen Anlaß zum Verschwinden gefunden zu haben.

Als sie gar nicht wiederkam und es Herbert endlich doch zu unpassend erschien, den ersten Besuch noch länger auszudehnen, schickte er sich zum Gehen an, die Aufforderung des Lehrers, an dem bescheidenen Abendbrot theilzunehmen, höflich ablehnend. „Aber gern werde ich ein andermal kommen, wenn ich nicht lästig falle,“ erklärte er.

„Es wird uns eine Freude sein, Herr Lieutenant, wenn Sie die Bekanntschaft mit uns einfachen Leuten fortsetzen wollen. Ich verkehre sonst nur mit meinesgleichen oder doch nur mit Leuten von einfach bürgerlichen Sitten, sehne mich auch nicht über diesen Kreis hinaus – man hat so seinen Stolz, Herr Lieutenant! Allein hie und da thut es doch gut, mit einem Manne aus anderer Welt ein Stündchen zu plaudern, besonders wenn dieser fast aller Herren Länder gesehen hat und so frisch davon zu erzählen weiß wie Sie!“

Auch Frau Jaspersen kam noch einmal herbei, um sich zu verabschieden. Da die Eltern der Tochter keine Erwähnung mehr thaten, so bat Herbert nur kurz, ihr seine Empfehlung ausrichten zu wollen, und dann ging er.

Mit welcher Fülle von Empfindungen begab er sich wieder zum Strande! Dieser Erfolg seines Streifzuges übertraf alle Erwartungen, die er an sein Abenteuer geknüpft hatte, und doch mischte sich seiner freudigen Erregung ein bitterer Tropfen bei. Was hatte er dem Mädchen zugefügt und wo sollte die Geschichte hinaus?

Erschien er sich selbst als ein Verwandelter, während er auf der „Bachstelze“ zu seinem Schiffe zurückfuhr, so kam ihm Frettwurst erst recht sonderbar vor. „Frettwurst!“ rief er, „hat Sie denn ein altes Weib behext, daß Sie mich fortwährend wie das leibhaftige Geheimniß anstarren?“

„Ne, Herr Lieutenant, behext bin ich nich. Ich wollte nur melden, daß wir ihr wieder haben.“

„Wen?“

„Das da!“

„Donnerwetter!“ rief Gebhardt vergnügt. „Die Nadel! Wo war sie denn? Also doch im Boot?“

Frettwnrst zog kläglich lächelnd Augenbrauen und Schultern in die Höhe und wand sich, als ob er Magenschmerzen habe.

„Was sollen denn die Possen, Frettwurst? Rasch antworten Sie!“

„Sie lag unter die Fußleiste, Herr Lieutenant.“

„Na, hören Sie mal, dann müssen Sie aber gestern höchst oberflächlich gesucht haben. Das ist mir ja ganz neu bei Ihnen!“

Gleich einem Schulkind erröthend, senkte der Matrose den Kopf. Zum ersten Male hatte er seinen Lieutenant angelogen!

Herbert aber dachte längst nicht mehr an die Nadel und Frettwursts Mangel an Diensteifer, als die „Bachstelze“ unter dem glitzernden Sternenhimmel, eine schimmernde Spur im phosphorescierenden Seewasser hinter sich lassend, auf die „Preußen“ zurauschte. Hatte heute das Glück, von dem er geträumt, seine Stirn berührt, oder war auch dies nur eine flüchtige Täuschung?




2.

Einige Tage waren seit jenem ersten Besuch im Schulhaus vergangen, als Herbert den Garten des Herrn Jaspersen wieder betrat. Zu seiner freudigsten Ueberraschung fand er nur Hilde daheim, die, mit einer Stickerei beschäftigt, unter der Linde saß; ihre Eltern waren weggegangen, um einen längeren Besuch im Dorfe abzustatten.

Der Schreck des jungen Mädchens, den Gegenstand ihrer unaufhörlichen bangen Träume leibhaftig vor sich zu sehen, war kein geringer. Da stand er wieder, dieser Mann, mit dem sie durch ein Geheimniß verbunden war, um das als dritter nur noch der liebe Gott wußte und der vermuthlich, ohne es zu billigen! Aber hätte sie, nachdem sie zuerst aus Scham stumm geblieben war, überhaupt noch reden dürfen, während er doch so flehentlich ihre Verschwiegenheit angerufen hatte? Ach, welch schreckliche Konflikte gab es doch im Leben!

Sie wagte dem gefährlichen Manne, der auf ihre schüchterne Einladung hin mit einer Verbeugung neben ihr Platz genommen hatte, nicht ins Auge zu schauen; dafür streifte ihr scheuer Blick den oberen Theil seiner Brust. Dort auf der Kravatte saß sie wirklich – die goldene Nadel! Hatte der Bursche sein Versprechen gehalten oder am Ende doch geplaudert?

Diese Frage, die sich Hilde immer wieder stellte, war nicht geeignet, ihre Befangenheit zu vermindern, und auch Herbert fand seine gewohnte Sicherheit nicht. So saßen sie eine Zeitlang schweigend nebeneinander, beide in Gedanken bei demselben Augenblick verweilend, der sie einander nahegebracht hatte, um sie klaftertief zu scheiden, und den sie beide durch eine offene Aussprache gern aus der Welt geschafft hätten. Doch keines wagte, davon anzufangen, und als endlich eine Unterhaltung in Gang kam, da waren es Erörterungen, die sich so weit wie möglich von dem entfernten, was man zu sagen wünschte. Dann trat wieder eine Pause ein. Um die Lindenblüthen tummelten sich die Bienen, mit ihrem träumerisch behaglichen Summen die laue Luft erfüllend. Das Laub überschattete den Tisch, nur ab und zu, wenn ein leiser Windhauch die Blätter bewegte, tanzte ein verlorener Sonnenstrahl über den Kies.

Herbert lehnte sich sinnend in den Gartenstuhl zurück und begann mit einem Lindenzweig zu spielen, die Augen unverwandt auf das junge emsige Mädchen gerichtet, das den Kopf anmuthig gesenkt hielt und sich mit einer auffallenden Hingebung ihrer Handarbeit widmete. Wie mädchenhaft sie war, und wie unnahbar, wie fern sie vor ihm saß! Ihm war, als könnte er niemals wagen, ohne ihren Willen auch nur an den Saum ihres Kleides zu rühren. Und doch hatte er diesen ernsten Mund schon geküßt!

Aber gewaltsam riß er sich aus seinen Gedanken empor – es mußte etwas geschehen, um dieses Stündchen ungestörten Zusammenseins, wie es vielleicht nicht mehr wiederkehrte, auszunutzen.

„Fräulein Jaspersen –“ begann er plötzlich. Als Hilde den feierlichen Ton vernahm, versuchte sie schleunigst, einen abweisenden strengen Ausdruck in ihre Haltung zu legen, mit sehr schwachem Erfolg, denn ihr Gegenüber fuhr unbeirrt fort: „Fräulein Jaspersen, ich bin bisher nicht dazu gekommen, Sie in geziemender Weise um Vergebung zu bitten für meine unverzeihliche Frechheit. Das soll hiermit geschehen. Also, es thut mir schrecklich leid, daß ich – nein, lügen kann ich nicht! Es war doch zu schön, als daß ich die That ungeschehen machen möchte! Aber ich fühle trotzdem Reue! Wahrhaftig, glauben Sie mir es nur, so widerspruchsvoll es klingt! Ja, ich empfinde um so mehr Reue, als Sie mich durch Ihr großmüthiges Schweigen tief beschämt haben.“

Hilde wußte nicht, was thun. Sie zupfte an ihrer Stickerei herum und kämpfte mühsam gegen die Thränen, ohne es verhindern zu können, daß endlich zwei große Tropfen über ihre Wangen rannen. Sie warf ihm einen herzzerreißenden Blick zu. „Und nicht einmal schmerzlich ist es Ihnen!“ schluchzte sie.

Herberts Herz wurde weich wie Wachs. Ruckweise schob er sich mit dem Stuhle näher.

„Liebes, liebes Fräulein, weinen Sie nur nicht! Eine Schande ist’s doch nicht; wenigstens nicht für Sie! Ebenso wie Sie geschwiegen haben, schweige ich auch. Niemand außer uns beiden soll je davon erfahren! Und dann – o Fräulein Hilde, wenn Sie sich selbst hätten sehen können, ich schwöre darauf, Sie würden auch nicht widerstanden haben, Sie hätten sich selbst küssen müssen! So hinreißend lieblich sahen Sie aus, ganz wie ein Dornröschen! Sehen Sie, das ist der Fluch dieser Kindermärchen, daß man sogar als erwachsener Mensch ihrem Einfluß sich nicht zu entziehen vermag. Und das ist doch auch nicht meine Schuld, daß ich kein Theewasser, sondern warmes jugendfrisches Blut in meinen Adern habe. Was können Sie für Ihre Lieblichkeit?

Nichts! Was kann ich dafür, daß meine moralische

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_034.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2020)