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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Eine Zauberwurzel.
Kulturgeschichtliche Skizze von Martin Beck.
Mit Abbildungen nach Originalaufnahmen der k. k. Lehr- und Versuchsanstalt für Photographie und Reproduktionsverfahren in Wien.[1]

In Südeuropa, in den Ländern am Mittelländischen Meere, da wächst eine sehr giftige, zu der Familie der „Nachtschatten“ gehörende Pflanze, eine Verwandte unserer Kartoffel. Sie hat zarte, glatte Blätter von bleichgrüner Farbe und mit starken Adern durchzogen. Ungefähr eine Hand breit, sind diese Blätter ziemlich groß und mit kurzer stumpfer Spitze versehen. Sie wachsen sehr dicht und breiten sich ohne merklichen Stengel am Boden aus. Aus den langstengligen blaßgelben Blüthen entwickeln sich starkriechende safranfarbige Kugelfrüchte, welche kleinen Aepfeln ähneln und mit weißen platten Samenkörnchen gefüllt sind.

Zwei Alraunwurzeln mit ihren Gewändern aus dem Besitze Kaiser Rudolphs II.

Die Pflanze heißt Mandragora und ist dieselbe, die im Mittelalter einen so geheimnißvollen Zauberkreis um sich geschaffen hat.

Das graue Alterthum wußte noch nichts von übernatürlichen Kräften der Mandragora. Die Römer kannten wohl die Pflanze, sie benutzten ihre Wurzel als schlafbringendes und schmerzstillendes Mittel. –

„Gieb Mandragora mir zu trinken,
Daß ich die große Kluft der Zeit durchschlafe,
Wo mein Antonius fern ist!“

läßt Shakespeare die ägyptische Kleopatra der Sklavin zurufen, und ein Schlaftrunkener mußte sich wohl die Bemerkung gefallen lassen: „Du schaust ja aus, als hättest du Mandragora getrunken!“ Auch in Liebestränke mischte man gern den Saft. Aber nichts hören wir von den Fabelgespinsten, die in späteren Zeiten die Mandragora umwoben! Natürlich machten die Kräutersucher und Wurzelgräber auch damals schon ihren Hokuspokus mit der begehrten Pflanze, um ihren Preis zu erhöhen, Uneingeweihte abzuschrecken und nöthigenfalls eine Ausrede zu haben, wenn ihr Mittel einmal nicht die versprochene Wirkung that. Es war eben dann irgend ein Versehen untergelaufen. Das geht heute so, das war so in Rom und war so in Griechenland, wo der aufgeklärte Philosoph Theophrast, ein Schüler des Aristoteles, sich einmal darüber lustig machte. Noch der ältere Plinius, der dreihundert Jahre später seine Naturgeschichte schrieb, weiß nichts von den übernatürlichen Kräften, die in dem unscheinbaren, sonderbar verschlungenen Wurzelgebild schlummern sollten.

Aber doch schon zu seiner Zeit tauchen ersten Andeutungen auf.

„Glücksmännchen“ von Mariazell.

Ein etwas jüngerer Zeitgenosse des älteren Plinius war der Geschichtschreiber Flavius Josephus, der im ersten Jahrhundert n. Chr. zu Rom in griechischer Sprache und in römischem Sinne die Geschichte des jüdischen Volkes bis zur Zerstörung Jerusalems schrieb. Der weiß zu berichten von einer Zauberwurzel, die bei der Bergfestung Machaerus, östlich vom Toten Meere, heimisch war.

An der mitternächtlichen Seite, wo ein tiefer Schutzgraben um die Stadt lief, war ein Platz mit Namen „Baraas“. Dort wuchs die merkwürdige Pflanze, die denselben Namen führte. Feuerfarben war ihre Blüthe, und wenn man in der Dunkelheit auf sie zuging, so schimmerte sie wie der Blitz. Sie ließ sich aber nicht leicht ausgraben, sondern wich vor dem Ankömmling fortwährend zurück, bis dieser sie durch ein bestimmt vorgeschriebenes Mittel festbannte. Niemals aber durfte er sie berühren – es wäre sein Tod gewesen! Nur dann konnte er sie wegtragen, wenn er sie nicht unmittelbar mit der Hand anfaßte. Daneben aber gab es noch einen Weg, die lebensgefährliche Wurzel zu erlangen. Man mußte sie ganz und gar umgraben und nur ein kleines Ende von ihr im Erdreich stecken lassen. Daran band man einen Hund, der es, im Bestreben, seinem Herrn zu folgen, herauszog, aber augenblicklich daran sterben mußte. Er ist dem Tode verfallen an Stelle dessen, der die Wurzel ausgegraben hat, denn die Wurzel will ihr Opfer haben. Nunmehr kann man sie frei und gefahrlos berühren und mitnehmen. Giebt man sie einem Besessenen auch nur in die Hand, so müssen die bösen Geister alsbald von ihm weichen.

Das, was Josephus hier von der Wurzel „Baraas“ erzählt, deckt sich mit den Ceremonien, die man dann auch bei der Ausgrabung der Mandragora beobachtete. Aber erst aus dem Anfang des sechsten Jahrhunderts besitzen wir eine sichere Kunde, daß man die Mandragora als eine Zauberwurzel ansah, die unter so seltsamen Förmlichkeiten gegraben werden mußte. Damals wurde für die Kaisertochter Anicia eine schöne Abschrift der Werke des berühmten, ebenfalls im ersten Jahrhundert n. Chr. lebenden Botanikers Dioscorides hergestellt und, wie dies üblich war, mit


  1. Wir verdanken diese Abbildungen dem liebenswürdigen Entgegenkommen des Kustos der kaiserl. Hofbibliothek zu Wien, Herrn Hofrath Professor Dr. v. Hartel, sowie des Direktors der „k. k. Lehr- und Versuchsanstalt für Photographie und Reproduktionsverfahren in Wien“, Herrn Dr. F. M. Eder, welcher die Güte hatte, die Aufnahmen selbst zu besorgen.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_029.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)