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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


Weltverbesserer.
Von Dr. J. O. Holsch.
I.
„Die Welt wird alt und wird wieder jung, 

Doch der Mensch hofft immer Verbesserung.“0

Schiller. 

Keine geharnischten Ritter ziehen heutzutage mehr aus, um Riesen, Drachen und anderes schädliche Gewürm zu erschlagen – die modernen Ritter sind Ritter des Geistes; sie gürten sich mit der scharf geschliffenen Waffe des Gedankens, der Wissenschaft, um auszuziehen wider die kräftigen trotzigen Riesen des Zweifels, wider die feuersprühenden Drachen der Phantasie, die am Wege des modernen Lebens lauern. Eben unserem Zeitalter erstehen und erstanden ja merkwürdige, gerade ihm eigenthümliche Titanen, die nach ihrer Art rücksichtslos zeitgenössische Olympe stürmen und in die zeitgenössischen Unterwelten hinableuchten – himmelhoch jauchzende Weltumstürzler und Weltverbesserer hier – und dort zum Tode betrübte, neuzeitübersättigte, durch und durch zerfressene Weltschmerzler und Weltverächter!

Der Weltschmerz ist eine Art von Geisteskrankheit, welche daraus entspringt, daß Wille und Erkenntnißkraft, Handeln und Verstehen bei einem Menschen nicht im Gleichgewicht stehen. Wie wäre es sonst möglich, daß Tausende nicht bloß der Muttererde, die sie ernährt, nein – dem ganzen, unermeßlichen, unerforschten Weltall den Vorwurf der Unzulänglichkeit, ja der Erbärmlichkeit, des Verpfuschtseins entgegenschleudern – Tausende, die nichts sind als Stäubchen, Atome im Getriebe eines ungeheuren, überwältigenden Ganzen, das sie nicht überblicken.

Man wird vielleicht sagen: derartige Aeußerungen und Geistesrichtungen sind immer nur einzelne krankhafte Ausgeburten. Wohl! Wenigstens in ihrer schroffsten Form, in ihren klassischen Typen. Aber doch machen sich verwandte Stimmungsäußerungen mehr und weit verderblicher in unseren nervösen Zeitgehirnen breit, als man gewöhnlich zugeben will und als dem lebenden Geschlecht gut ist.

Jeder dauernde Weltschmerz endet aber – mag er nun die Form des Größenwahnes oder die der Willenszersetzung annehmen – unfehlbar mit geistiger oder körperlicher Selbstvernichtung, denn es ist dem Menschen nicht anheimgegeben, ob er sich dem Weltgeschehen entziehen oder ihm entgegenstemmen will: die Frage ist für ihn lediglich die, auf welche Weise er sich demselben unter- und einzuordnen vermag.

Die mehr als sechstausendjährige, aktenmäßig bezeugte Menschheitsgeschichte, ja auch die Gesammtheit dessen, was jenseit unseres geschichtlichen Wissens an der Wiege der Menschheit geschah, liegt hinter uns keineswegs bloß als Fundgrube für gelegentliche Belehrung, als Erinnerungsmaterial, aus dem man dann und wann schöpft, nein – die Vergangenheit bildet die nothwendige, unveränderliche und unwandelbare Unterlage unseres ganzen Seins, unserer ganzen künftigen Entwicklung: sie ist sogar der Gradmesser für das, was in einem gegebenen Augenblicke überhaupt zu erreichen möglich ist.

An dieser Wahrheit muß der Weltschmerz mit allen seinen Trägern jederzeit unerbittlich zerschellen; diese selbe Wahrheit ist es aber auch, welche der vorwärts stürmenden Avantgarde der „Weltverbesserer“ aller Formen und Schattierungen sich entgegenstellt.

*      *      *

Weltverbesserung in dem Sinne, daß der Mensch in das große Getriebe der Weltenbewegung eingreifen könnte, ist also ebenso unmöglich wie das Aufhalten der Erdumdrehung durch Wesen, die auf der Erdoberfläche kriechen; auch im Sinne eines Eingreifens in die Menschheitsgeschichte wird es noch lange bei dem Rathe bleiben, den Schiller einem „Weltverbesserer“ gab:

„– Auch dem Menschen, der dir im Leben begegnet,
Reich ihm, wenn er sie mag, freundlich die helfende Hand.
Nur für Regen und Thau und fürs Wohl der Menschengeschlechter
Laß du den Himmel, Freund, sorgen wie gestern, so heut’.“

Doch soll niemand es wehren, wenn edle Geister und kühne Vorkämpfer der Menschheit sich vorahnend in die Zukunft der Welt und der Menschheit versenken, wenn sie diesen Zustand schauen und darstellen als höhere Entfaltung, als harmonische Vollendung dessen, was heute ist. Erhalten nicht alle knospenden Keime der Gegenwart dadurch neues Licht und neuen Wachsthumsreiz? Die Sehnsucht nach höherem edleren Leben und Wirken erwacht und erstarkt, die Geister werden zu gemeinsamem Handeln angespornt.

Bei all dem darf jedoch Eines nie verschwinden noch getrübt werden: die volle Klarheit über den Wirklichkeitsboden, auf dem wir unwiderruflich stehen; in demselben Maße, wie dieser aufgegeben oder mißachtet wird, erweckt auch der „Weltverbesserer“ in uns das Gefühl des Unwahrscheinlichen, des Aussichtslos-Phantastischen, ja des Närrischen, in demselben Maße wird er unsere Theilnahme verlieren und uns als bloßes Opfer der Selbsttäuschung und Selbstüberhebung erscheinen.

Der Menschheitsbeglücker sind schon unzählige auf- und wieder niedergetaucht, ehrliche und edle Märtyrer, wie un ehrliche und verworfene Charlatane. Wenn wir den Versuch machen, aus ihrer Legion außerordentliche Vertreter einer ganz bestimmten Gattung herauszuheben, so richtet sich unser Blick vorzugsweise auf solche Denker, welche die äußere, wirthschaftliche Lebensordnung einer bestimmten Menschengruppe, eines bestimmten Volkes oder Staates zum Gegenstande ihrer Verbesserungsvorschläge gemacht haben, Männer, welche man kurzweg „Staatsromantiker“, vielleicht auch „Staatsidealisten“ nennen könnte.

Einen Zeitraum von zweieinhalb Jahrtausenden im Fluge durcheilend, werden wir untersuchen, welches Ideal vom Aufbau der menschlichen Gesellschaft hervorragende Menschen in den einzelnen Zeitaltern sich gemacht haben, welche Entwicklung dieser Aufbau thatsächlich genommen hat und welcher Fortschritte sich das zu Ende gehende zweite Jahrtausend nach Christus zu rühmen vermag, und warum gerade unsere Zeit so reich ist an – „Weltverbesserern“.


1. Das antike Staatsideal Platos.

Bis auf den heutigen Tag werden die Bildhauer, Dichter, Redner, Helden und Staatsmänner der Griechen unserer Jugend zur Nacheiferung vorgeführt, und als die beiden größten Weltweisen vor der Geburt Christi gelten Plato und Aristoteles. Als im Jahre 399 vor unserer Zeitrechnung Sokrates auf Befehl des höchsten Volksgerichtes seiner Vaterstadt Athen den Schierlingsbecher trank, da stand Plato, der Mann mit der „breiten Stirn“, sein größter Schüler, im kräftigsten Mannesalter. Wir würden uns mit Fug und Recht sehr wundern, wenn für diesen tiefen Denker der Tod eines Sokrates durch den Schierlingsbecher nicht zum Ausgangspunkt eines eingehenden Nachdenkens darüber geworden wäre: welcher Natur ist ein Staat, der solch einen Mann zum Tode zwingt? Welcher Natur müßte ein Staat sein, in welchem ein solcher Mann, statt Gift trinken zu müssen, den höchsten Einfluß auf die Geschicke und die Lebensführung seiner Mitbürger besäße?! Der Staat, welcher Sokrates, den Reinen, den Weisen, vernichtete, er war wirklich, aber – war er vernünftig? Und weiter – hier kommen wir sofort mitten hinein in Platos Ausführungen – der Staat, ein Staat, in welchem Philosophen sokratischer Natur herrschen würden, er wäre zwar sehr vernünftig gewesen, aber warum war er eigentlich nicht wirklich, und wie wäre er wirklich zu machen?

Aus der Gährung solcher Gedanken und Erlebnisse heraus sind die uns erhaltenen politischen Schriften Platos wie der „Staat“, der „Kritias“ und schließlich die „Gesetze“ entsprungen, welche in der Form von Zwiegesprächen über das Wesen des gerechten Menschen „im kleinen“ wie über das Wesen des gerechten Menschen „im großen“, d. h. über den Staat, handeln. Der Grundgedanke Platos für alle seine auf das Wesen des Staates sich erstreckenden Sätze ist der: wie der Mensch. ein Staat im kleinen ist, so muß der Staat als Mensch im großen betrachtet werden. Da nun aber der letztere das höhere Wesen ist, so müssem alle

Eigenschaften und Funktionen des Einzelnen von ihm aus nicht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_027.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2020)