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verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

meiner Vaterstadt. So ist eine Art Struwwelpeterfabrik entstanden, es lebt eine Anzahl fleißiger Menschen dadurch, und so ist aus dem Scherze doch auch wohlthätiger Ernst geworden.

Von der deutschen Ausgabe ist bereits die 175. Auflage erschienen (die 100. hatten wir mit einem Jubelblatt zu feiern versucht), von der englischen die 40. und vom Nußknacker die 21. Ich habe später nämlich noch vier andere Büchlein der Art geschrieben und zu zeichnen mich erkühnt. Der „König Nußknacker“, der mir eigentlich das liebste ist und als das beste erscheint, ist von einer tiefer gehenden Betrachtung ausgehend entstanden. Die Freude der Kinder an Märchenwundern ist bekannt; nun meinte ich, es wäre doch noch geeigneter, wenn man, statt die jungen Gemüther in ein fremdes unbegreifliches Land der Feen, der Zauberer und der Ungeheuer zu führen, die Märchenwelt herunter in die Kinderstube zu bringen versuchte. Ich kaufte mir auf einer Reise nach Berchtesgaden und Salzburg allerhand Spielzeug in Nürnberg zu Originalmodellen zusammen, und an der österreichischen Grenze wurde unser Gepäck von dem Zollbeamten visitiert; auf die Frage, ob ich etwas zu verzollen bei mir führe, sagte ich:

„Möglicherweise, ich habe einen König im Koffer.“

„Wos, an König?“ frug mich der Untersuchende; als er ihn aber fand, lachte und bemerkte er: „Ja, die Majestät müssen wir holters doch zollfrei passieren lassen!“

Von den anderen, dem „Prinz Grünewald und Perlenfein mit ihrem lieben Eselein“, von dem „Im Himmel und auf der Erde“ und von „Bastian der Faulpelz“ will ich schweigen; das würde zu weit führen. Sogar in Musik hat man mit bekannten Melodien die Thaten und Leiden der kleinen Helden gesetzt.

Nur noch eines besonderen Vorfalls sei Erwähnung gethan. Wir hatten auch Nachdruckprozesse zu führen; bei einem derselben in der Nachbarschaft mußte ich selbst mitspielen; es war ein ganzes Coupé voll von Zeugen, Sachverständigen, Buchhändlern und Malern, die damals nach der Gerichtsstätte fuhren. Nun ereignete sich dort eine heitere Scene, die ich kurz erzählen will, ohne die Sache weiter breit zu schlagen. Ich sollte als Zeuge vernommen werden; der Gegenadvokat ließ mich nicht zu als einen Mitbetheiligten. Nun frug man mich unbeeidigt über dies und das und die kreuz und quer. Ich bemerkte, daß eine einfache Darstellung der Sache eher zum Ziele führen würde, und that dies ähnlich, wie ich es hier gethan habe. Es trat daraus der Umstand hervor, daß meine Bilder das Wichtigste und Ursprüngliche an den Geschichten seien, und daß, wer die Bilder nachdrucke, auch das Buch nachgedruckt habe (es handelte sich nämlich um eine Uebersetzung in eine fremde Sprache). Wir mußten abtreten und wurden in ein naheliegendes Gemach geführt, in dem große Schränke mit weiß angestrichenen Thüren standen; ich nahm nun einen Bleistift, zeichnete auf eine derselben einen Galgen, an dem der arme Struwwelpeter elendiglich hing, und schrieb nur die einfachen Worte daneben: „Ob? Ob nicht?“ Dann wurden wir einstweilen entlassen und begaben uns in eine nahegelegene Wirthschaft zum Mittagessen. Als wir zur festgesetzten Stunde wieder vor den Schranken erschienen, wurde uns mitgetheilt, das Gerichtspersonal habe die Hinrichtungsscene auf der Schrankthüre gesehen und herzlich gelacht.

„Gut!“ sagte ich zu meinen Leuten, „wenn das Gericht lacht, so haben wir unseren Prozeß gewonnen!“ Und so war es auch.

Noch wäre eine für mich weit wichtigere Episode aus dem Leben unseres Wildlings zu erzählen, nämlich wie er die Veranlassung wurde, daß ich mit dem verstorbenen Kaiser Wilhelm I. persönlich in Berührung kam, ihm selbst die Bücher zusenden durfte und dafür von dem trefflichen feinfühlenden Herrn als Gegengabe am folgenden Weihnachtsabend sein Bild mit seiner eigenhändigen Unterschrift erhielt. Dies aber zu erzählen, wird vielleicht erst später einmal an der Zeit sein.

Aber auch schmerzliche Erinnerungen ruft mir diese ferne Vergangenheit wach. Den Knaben, meinen ältesten Sohn, für den ich das Buch geschrieben hatte, habe ich als einen siebenundzwanzigjährigen jungen Mann durch den Tod verloren; er ist in Lima in Peru, wohin er als Kaufmann von London aus gegangen war, an der dort ausgebrochenen Epidemie des Gelben Fiebers gestorben; an seinem Geburtstag, den wir zu Hause in gewohnter Weise feierten, erkrankte er und nach vier Tagen schon war er entschlafen. Wir erhielten erst vier Wochen später die traurige Nachricht.

Schließlich muß ich nun doch sagen, daß ich ein recht glücklicher Vater bin, denn nicht allein meine braven wohlgerathenen Kinder und Enkel haben mir viele, viele Freunde gemacht, auch von den anderen mißrathenen bösen und leichtsinnigen, freilich nur papiernen, habe ich nur Gutes erfahren. Kann man mehr verlangen? Ich hoffe, daß es meinen wirklichen Kindern im Leben verdientermaßen gut gehen werde, ich hoffe aber auch, daß die anderen, die farbigen, noch eine gute Zeit zu leben fortfahren sollen.

Erwähnen muß ich aber noch, daß zu der Verbreitung der fünf kleinen Schriften wesentlich auch die Intelligenz und Rührigkeit der Verlagshandlung beigetragen hat, von der ich leider schon drei Inhaber, liebe Freunde von mir, habe aus dem Leben scheiden sehen, deren Verlust ich schmerzlich bedaure.

Am Ende ist es doch ein wohlthuendes Gefühl, so vielen Tausenden und vor allem der goldgelockten Kindheit fröhliche Stunden verschafft zu haben, ein Bewußtsein, welches für manches Unerreichte und Ungenügende im Leben trösten kann, und für diese Schickung werde ich der gütigen Vorsehung mit bescheidenem Sinne dankbar bleiben.

Was ist nun an der ganzen Geschichte Besonderes? Ich hatte seiner Zeit ganz zufällig ein unscheinbares Samenkorn gefunden, hatte es ganz arglos in den Boden gesteckt; da ist es mit der Zeit immer gewachsen, ein Baum geworden, nach dessen Blüthen und Früchten viele langen und unter dessen Schatten ich nun als ein alter Mann gemüthlich sitzen und ausruhen kann. –


*   *   *


Geehrter Herr, meine Erzählung ist viel länger geworden, als ich erwartet hatte; aber wenn das Herz und das Tintenfaß voll sind, dann kommt man leicht in ein weitläufiges Plaudern, und so mag es denn genug sein, und Sie verzeihen es Ihrem hochachtungsvoll ergebenen

Dr. H. Hoffmann-Donner.

Frankfurt a. M., den 3. November 1892.



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verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1893, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_019.jpg&oldid=- (Version vom 5.10.2019)