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verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Vom Struwwelpeter.
Ein Brief an die Redaktion der „Gartenlaube“.

Sehr geehrter Herr!

Sie verlangen von mir, daß ich Ihnen für Ihre „Gartenlaube“ die Entstehungsgeschichte meines Kinderbuches, des „Struwwelpeters“, und seiner Nachfolger niederschreiben möge.

Ich will diesem Gesuch entsprechen, doch muß ich gestehen, daß es mit einem gewissen Bedenken geschieht, und dies aus verschiedenen Gründen.

Zuvörderst widerstrebt es meiner Natur, von mir selbst zu reden, denn Ruhmredigkeit und Selbstüberschätzung sind nun einmal nicht meine Sache, und dann ist der Hergang schon zum Theil bekannt und besprochen, ja es steht sogar schon eine kurze Skizze in dem Buche selbst[1] auf Veranlassung der Verleger abgedruckt, und endlich hat der Hergang doch eigentlich wenig literarische Bedeutung.

Aber Sie wünschen es; nun so mag es geschehen!


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Habent sua fata libelli!“ „Bücher haben ihre Schicksale!“ – und dies gilt in vollem Maße von dem kleinen bunten Hefte.

Es war im Jahre 1844, das Weihnachtsfest nahte; ich hatte damals zwei Kinder, einen Sohn von dreieinhalb Jahren und ein Töchterchen von ein paar Tagen. Nun suchte ich für jenen ein Bilderbuch, wie es für einen solchen kleinen Weltbürger sich schicken mochte; aber alles, was ich da zu sehen bekam, sagte mir wenig zu. Endlich kam ich heim und brachte ein Heft mit, welches ich meiner Frau mit den Worten überreichte: „Hier habe ich, was wir brauchen.“ Verwundert öffnete sie die Blätter und sagte: „Das ist ja ein leeres Schreibheft!“, worauf sie die Antwort erhielt: „Jawohl, aber da will ich dem Jungen schon selbst ein Bilderbuch herstellen!“

Ich hatte in den Buchläden allerlei Zeug gesehen, trefflich gezeichnet, glänzend bemalt, Märchen, Geschichten, Indianer- und Räuberscenen; als ich nun gar einen Folioband entdeckte mit den Abbildungen von Pferden, Hunden, Vögeln, von Tischen, Bänken, Töpfen und Kesseln, alle mit der Bemerkung 1/3, 1/8, 1/10 der Lebensgröße, da hatte ich genug. Was soll damit ein Kind, dem man einen Tisch und einen Stuhl abbildet? Was es in dem Bilde sieht, das ist ihm ein Stuhl und ein Tisch, größer oder kleiner, es ist ihm nun einmal ein Tisch, ob es daran oder darauf sitzen kann oder nicht, und von Original oder Kopie ist nicht die Rede, von größer oder kleiner vollends gar nicht.

Das Kind lernt einfach nur durch das Auge, und nur das, was es sieht, begreift es. Mit moralischen Vorschriften zumal weiß es gar nichts anzufangen. Die Mahnung: sei reinlich! sei vorsichtig mit dem Feuerzeug und laß es liegen! sei folgsam! – das alles sind leere Worte für das Kind. Aber das Abbild des Schmutzfinken, des brennenden Kleides, des verunglückenden Unvorsichtigen, das Anschauen allein erklärt sich selbst und belehrt. Nicht umsonst sagt das Sprichwort: „Gebrannter Finger scheut das Feuer.“

Ich machte mich nun in freien Stunden ohne viel Vorbereitung ans Werk, hatte aber leider nicht bedacht, daß die Arbeit viel Zeit und Mühe erforderte, und mehrmals verwünschte ich es, die Geschichte angefangen zu haben. Ich hatte zu den Versen und den Zeichnungen dieselbe Feder und dieselbe gewöhnliche Tinte benutzt; als ich nun an das Kolorieren ging, flossen die Konturen in die Farben. Nun, was that es! Es mußte fortgefahren werden. Damals hielt ich fest an dem Grundsatz: Begonnenes muß fertig gemacht werden! Ich hatte schon öfter im Leben unangenehme Folgen des Gegentheils an mir selbst erlebt. Die Bilder zeichnete ich leicht in flüchtiger Weise, und die kindlichen Verse fügten sich folgsam in kecken Reimen einer an den andren, und so ward das Ganze fertig.

So ganz aus der Luft gegriffen war übrigens die Geschichte doch nicht, ein und das andere war doch auf praktischem Boden aufgewachsen, so namentlich der Hauptheld. Ich bin Arzt und als solcher oft einem störenden Hinderniß bei der Behandlung kranker kleiner Kinder begegnet. Der Doktor und der Schornsteinfeger sind bei Müttern und Pflegerinnen zwei Popanze, um unfolgsame Sprößlinge zu schrecken und zu bändigen. „Wenn



  1. Unsere älteren Leser erinnern sich vielleicht dieser Skizze, denn sie stand zuerst in der „Gartenlaube“, ehe sie dem „Struwwelpeter“ beigedruckt wurde. Wenn wir heute auf die Geschichte vom „Struwwelpeter“ zurückkommen, so leitete uns dabei die Absicht, von dem verehrten nunmehr dreiundachtzigjährigen Verfasser selbst die Schicksale seines weitberühmten Buches ausführlicher und bis zum heutigen Tage unseren Lesern erzählen zu lassen.
    Die Red.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1893, Seite 17. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_017.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)