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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


„Dann würde ich ihr vielleicht wecken.“

„Soo? Und natürlich durch einen Kuß!“

Frettwurst schüttelte sehr entschieden den Kopf. „Herr Lieutenant spaßen! Ich bim ja versprochen, und denn würd’ ich doch nich so’n ausverschämten Kerl sein gegen ’ne kleine Deern, die mir nich kennt.“

Herbert zupfte mit Daumen und Zeigefinger an seiner Nasenspitze. Da hatte er also sein Urtheil weg! Schweigend vollendeten die beiden ihre Fahrt.

Die „Bachstelze“ wurde wie gestern an die Brücke gelegt. Herr und Diener begaben sich auf die Suche nach der Nadel. Vergebens – diese blieb verschwunden, und Herbert fragte sich ärgerlich, ob am Ende Hilde gestern abend oder heute früh beim Holen ihres Buches, von dem er nichts mehr entdecken konnte, den Anker als willkommenes corpus delicti an sich genommen habe.

Betrübt, als ob er selbst den Verlust zu tragen hätte, übernahm Frettwurst endlich wieder die Bootswache. Da es noch viel früher als gestern war, beschäftigte er sich damit, allerlei kleine Schäden des Kutters auszubessern, während Herbert, die Sportmütze tief sich ins Gesicht drückend, durch das Roggenfeld auf das Dorf zuschritt. Das Verschwinden des Andenkens that ihm sehr leid und verursachte ihm einige Sorge wegen des Verlaufs, den sein Abenteuer auf diese Weise nehmen konnte; auch hatte ihn der unbewußte Richterspruch Frettwursts getroffen. Dennoch erfüllten sein Herz hauptsächlich Gedanken sehr freundlicher und sehr unternehmender Art. Das Bild des Mädchens hatte sich ihm tief eingeprägt und ließ ihm keine Ruhe. Auf die Gefahr hin, erkannt und entlarvt zu werden, wollte er nachforschen, ob die junge Schöne im Dorfe wohne und wer sie sei.

Der Pfad neigte sich abwärts; nach wenigen Minuten betrat Herbert die Dorfstraße, an deren Ende das Wirthshaus lag. Hier ließ er sich ein Glas Bier geben und erkundigte sich so beiläufig, ob im Dorfe ein Herr Jaspersen wohne, der eine Tochter Namens Hilde habe. Die Auskunft, die er erhielt, befriedigte ihn vollauf: Hilde Jaspersen wohne allerdings hier, sie sei die Tochter des Herrn Lehrers.

Nach einer Weile stand Herbert auf; er durchwanderte umherspähend die einzige Gasse des Dorfes und machte dann vor einem kleinen flachsköpfigen Rangen Halt, der ihn verwundert und wie festgenagelt anstarrte.

„Wo wohnt hier der Schullehrer, mein Junge?“

„Dor!“ Nach dieser lakonischen Antwort steckte der Gefragte den als Wegweiser benutzten Zeigefinger wieder in den Mund, aus dem er ihn mit augenscheinlichem Widerstreben herausgezogen hatte.

„Dor!“ – Ein langgestrecktes, halb mit Stroh, halb mit Ziegeln gedecktes Haus lag vor ihm. Die mit Ziegeln gedeckte Hälfte sah neu und nüchtern aus. Reihen von leeren Bänken, die hinter den vorhanglosen offenstehenden Fenstern sichtbar wurden, zeigten die Stätte der Weisheit an; die andere Hälfte des Gebäudes dagegen war von wildem Wein umrankt und machte einen sehr anmuthigen Eindruck. Hier gab es blitzblanke Fenster nebst weißen Vorhängen und Topfblumen, ein Vorgärtchen, dessen Einfriedigung einen Reichthum von Rosen, Nelken und Lilien und anderem bunten sommerlichen Schmucke umschloß. An der Giebelseite erhob sich eine Linde mit einem gemüthlichen Sitzplätzchen darunter. Daneben standen Obstbäume und Fliederbüsche, zwischen denen eine stattliche Reihe Bienenkörbe hervorschaute.

Bekanntlich zieht es Verbrecher stets mit geheimnißvoller Gewalt zu den Opfern ihrer Uebelthaten. Aehnlich erging es Herbert. Obgleich er sich sagen mußte, daß sich ein Zusammentreffen mit dem beleidigten Mädchen oder den entrüsteten Mitgliedern der Familie Jaspersen für ihn recht unangenehm gestalten könne, trieb es ihn doch unwiderstehlich an den Gartenzaun, an den er sich wie ein harmloser, des Ausruhens bedürftiger Wanderer lehnte. Allein was er erwartete, wollte sich nicht zeigen. Nirgends war etwas von einem hellen Gewand, einer jugendlich zarten Gestalt zu bemerken. Statt dessen tauchte vielmehr jetzt aus den Fliederbüschen ein Mann in Hausschuhen hervor, mit einem Sammetkäppchen auf dem Haupte, in unverkennbar seelenzufriedener Stimmung aus langer Pfeife dampfend. Den Rücken dem Zaune zugekehrt, stellte er sich vor die Bienenstöcke und verfolgte aufmerksam das Treiben der fleißigen kleinen Honigsammler.

Vater Jaspersen! dachte Herbert. Ein recht gemüthlicher Schulmonarch, schade nur, daß er nicht wenigstens Pastor ist! Aber ärgerlich unterbrach er sich selbst. Schade? Warum? Was ging es sein kleines Abenteuer mit dem Töchterlein an, ob der Vater eine höhere oder niedrigere Lebensstellung einnahm!

Eine Weile verharrte Herbert noch in seiner beobachtenden Stellung; dann richtete er sich mit einem Ruck entschlossen auf.

„Giebt’s guten Honig diesen Sommer, Herr Jaspersen?“ tönte eine helle kräftige Stimme an das Ohr des Schulmeisters. Dieser kehrte sich um und erblickte am Zaune einen sportmäßig aussehenden jungen Mann, der so behaglich und breitbeinig dastand, als sei er sehr geneigt zu einer längeren freundnachbarlichen Unterhaltung.

Vielleicht durch diese Gemüthlichkeit bewogen, trat der Lehrer auf den Fremden zu. „Ich hoffe,“ sagte er dann, indem er sein Gegenüber ruhig aus freundlichen Augen musterte. „Ich habe da eine gute Bienenrasse, und sie finden jetzt viel Nahrung, besonders auf dem Stück Heide am Walde droben, das zu meiner Stelle gehört. Es ist Ihnen vielleicht auch aufgefallen, denn es ist das einzige beim Dorfe; überall sonst findet sich nur fruchtbarer Roggen- und Weizenboden. Früher haben die Bauern wohl gedacht: ‚O, für den Schulmeister ist das Heideland gut genug!‘, mir aber kommt es nun gerade für meine Bienenzucht zu paß.“

Häufig mit der Pfeifenspitze nach der erwähnten Richtung deutend, sprach der Lehrer dies in einem Hochdeutsch, das durch seine Anklänge an den Landesdialekt und durch die dunkle Tonfarbe etwas Breites und Plumpes erhielt. Dabei klangen aber die Worte so treuherzig und zutraulich, als ob er einen alten Bekannten vor sich habe. Die Anrede bei seinem Namen hatte ihn nicht in Verwunderung gesetzt, da er sich in der Gegend überall gekannt wußte.

Herbert vermochte vorläufig irgend eine äußere Aehnlichkeit zwischen dem zuthulichen alten Herrn und der leichtfüßigen Erscheinung der Tochter nicht herauszufinden, aber er fühlte sich angeheimelt. Lächelnd hörte er die kleine Rede des Schullehrers an und beschloß, ihn bei dem Gegenstand, der offenbar sein Lieblingsthema war, festzuhalten, und so erkundigte er sich angelegentlich nach der Zahl der Bienen in den vorhandenen Stöcken. „Ist diese Zahl annähernd zu schätzen, Herr Jaspersen?“

„Nun, einen ungefähren Anhalt hat man schon. Man rechnet auf den Stock außer der Hauptperson, der Königin, etwa sechshundert bis tausend Drohnen und zwischen zehn- und fünfundzwanzigtausend Arbeitsbienen. – Sie haben sich wohl noch nie mit der edlen Imkerei beschäftigt?“

„Leider nein! Aber ich habe mich stets ungemein für das Treiben dieser kleinen Staatsbürger interessiert. Kann man in den Stöcken dort sehen, wie sie arbeiten?“

„Gewiß! Wenn Sie nähertreten wollen, werde ich es Ihnen gern zeigen. Dort in dem Kasten rechts ist gerade ein frisch eingefangener Schwarm bei der ersten Einrichtung beschäftigt. Ja, ja, in den Städten lernt man die schönsten und wunderbarsten Dinge, die unser Herrgott geschaffen hat, gar nicht kennen. Kommen Sie nur!“

Herbert ließ die Aufforderung nicht zweimal an sich ergehen; er betrat den Garten in einer Eile, die mit seinem Interesse für die Bienenzucht nicht ganz zu erklären war. Mit kurzer Verbeugung lüftete er darauf seine Mütze und schloß sich, ohne seinen Namen zu nennen, dem freundlichen Bienenvater an. Dieser erwies sich als vorzüglicher Erklärer, so daß der Lieutenant vor dem Wissen des Mannes nicht wenig Respekt bekam; auf allen möglichen Gebieten der Naturwissenschaft schien Herr Jaspersen beschlagen zu sein.

„Nun müssen Sie aber doch auch das Erzeugniß meines Königreichs kosten, lieber Herr!“ schloß der Schullehrer seinen Vortrag. „Nein, Sie dürfen mir das Vergnügen nicht nehmen, wenn Ihre Zeit es irgend gestattet,“ fügte er dann hinzu, als der Fremde eine unsichere, auf Ablehnung deutende Höflichkeitsbewegung machte. „Es ist vorjähriger Honig von wirklich besonderer Güte. Meine Frau wird sich eine Ehre daraus machen, Sie damit zu bewirthen.“

Herbert widerstand nicht länger. Mit einem eigenthümlichen Gefühl halb freudiger, halb banger Erwartung folgte er dem alten Herrn zu dem Platz unter der gleichfalls von Bienen umschwärmten Linde.

(Fortsetzung folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_016.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2020)