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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Eines Tages aber – den vier rothgesprenkelten Eiern der Frau Sylvia waren bereits vier kleine Vöglein entkrochen, und diese hatten bereits ihr erstes graues Federkleid und hockten stolz wie die Türken dicht nebeneinander auf einem Hagedornzweig – da nahte für den Doktor und Stropp eine höchst unliebsame Ueberraschung.

Warum mußte auch die sonst so kluge Ulla gerade ein Briefchen, das sie für diesen Tag an den Rosenstrauch berief, in ihrem Nähkörbchen liegen lassen? Warum mußte der Onkel gerade dort sein Federmesser suchen und anstatt dessen den Brief finden? Nun war er an Stelle der Nichte erschienen und polterte gegen den Doktor mit einem solchen Zorne los, daß Stropp der Hund den Schweif so eng als möglich anzog und bei sich dachte: „Gott sei Dank, daß dieser Mann wenigstens nicht Oberförster ist!“

Aber Doktor Sassen benahm sich mustergültig.

Seine Ruhe und Beharrlichkeit hielt sämmtlichen Attacken des alten Reiteroffiziers stand, und schließlich zog der Onkel, nicht besiegt, aber auch nicht als Sieger, brummend ab, nachdem ihm der Doktor erklärt hatte: „Ich habe ein in Ihrem Besitz befindliches, von Ihnen als antik hochgeschätztes Kunstwerk nach meiner wissenschaftlichen Ueberzeugung für unecht erklärt, ohne daß ich die Ehre hatte, Sie zu kennen. Sie, Herr Oberst, haben kein Recht, darin eine Beleidigung Ihrer Person zu finden. Ich bin weder Ihrer Person, noch Ihren Verdiensten um die Alterthumswissenschaft zu nahe getreten. Für mich hat diese ganze unglückliche Verwicklung durchaus nichts zu thun mit unseren persönlichen Beziehungen. Wenn Sie auf dem Gegentheil bestehen, so muß ich dies aufs tiefste bedauern. Aber seien Sie überzeugt, daß Ulla und ich darum nicht voneinander lassen werden, selbst wenn wir darauf verzichten müßten, daß Sie Ihre treue Vormundschaft über Ulla mit der Beistimmung zu unserer Verlobung krönen. Daß Sie nichts Ungerechtes oder Hartes gegen Ulla persönlich unternehmen, dafür bürgt mir Ihre Ehre als Offizier und als Vormund. Kann ich Ihre Vorstellung von einem Angriffe meinerseits auf Ihre persönliche Ehre besser widerlegen, als indem ich meine Braut vertrauensvoll unter Ihrem Schutze lasse?“

Auf diese Worte erwiderte der Alte nichts, er sah den Doktor mit einem langen Blicke an, grüßte höflich und zog ab. – –

Die Sonne war schon lange untergegangen, als Doktor Sassen am Abend dieses Tages sein einsames Wohngemach betrat. Den ganzen Nachmittag war er umhergewandert, voll süß-trauriger Empfindungen, Liebes- und Lebenspläne schmiedend und verwerfend. Er hatte es anfangs kaum bemerkt, daß ihm ein Weggenosse folgte, und als er es bemerkte, vermochte er ihn mit allen gütlichen und bösen Mitteln nicht mehr loszuwerden. Was sich Stropp der Hund einmal in seinem harten Schädel vornahm, das war auch nicht so leicht wieder herauszubringen; und er hatte es sich nun einmal vorgenommen, dem Herrn Doktor heute zu folgen. Ach, auch für den armen Stropp war es ein Unglückstag gewesen! Der Morgen hatte ihm bereits von den verschiedensten Seiten Prügel und Schelte eingetragen. Als Eierdieb, als vermeintlicher Wilderer und wegen thätlicher Beleidigung eines verkaterten und somit sehr reizbar gestimmten Studenten war er zur Verantwortung gezogen worden, bis er schließlich einfach weggelaufen war, und nun hatte er auch noch statt des erhofften Zuckerstücks, das Fräulein Ulla ihm nie mitzubringen vergaß, diese niederschlagende Erscheinung des Onkels erleben müssen! In solcher Bedrängniß erachtete er den möglichst engen Anschluß an den Herrn Doktor als die einzige Rettung. Solange er bei diesem war, geschah ihm wenigstens nichts allzu Schlimmes, er hatte so einen schützenden Dämon, in dessen mächtigem Geleit er wieder einmal ein gutes Stück Welt durchschweifen durfte, und schließlich mußte doch der freundliche Herr auch irgendwo ein Zimmer haben und in dem Zimmer vermuthlich auch ein Plätzchen für einen armen verstoßenen Hund. Er wollte sich dem Herrn dafür nach Kräften nützlich und dankbar erweisen, ja er war sogar bereit, den Onkel auf Verlangen gehörig in die Waden zu beißen, vorausgesetzt, daß der Onkel keine hohen Stiefel trug. Einstweilen begnügte er sich damit, seinen Gönner unter aller schuldigen Rücksicht auf dessen gedrückten Gemüthszustand mit allerlei Kapriolen und Kunststückchen zu ergötzen und ihm auf jede Weise seine Ergebenheit zu bezeigen.

So waren sie miteinander umhergezogen, hatten in einem abgelegenen Walddörflein zu Abend gespeist und landeten schließlich in der Wohnung des Doktors. Stropp der Hund fand alsbald einen molligen Fußteppich vor dem Schreibtisch, der ihm ein angenehmes und standesgemäßes Nachtlager verhieß. Der Doktor aber rückte einen Stuhl ans Fenster und blickte sehnsüchtig hinüber nach dem Hause des Obersten.

Nur ein allerdings ziemlich geräumiger Garten, der in der Mitte durch eine niedrige Hecke geschieden war, trennte ihn von der Wohnung der Geliebten. Aus ihren süßen Plaudereien und den Mittheilungen seiner alten Hauswirthin kannte er genau die Vertheilung der Räume in der Villa drüben. Unten waren Küche, Dienerzimmer und vor allem, nach dem Garten hinaus, die umfangreiche Sammlung von römischen und fränkischen Grabfunden untergebracht. Oben rechts im ersten Stock lag die Wohnung des Obersten, dann folgte in der Mitte ein geräumiger, mit Waffen und Bildern ausgeschmückter Saal, und dann links ein seltsam ausgestattetes Gemach, welches den größten Schatz des alten wunderlichen Herrn, die römische Flasche, barg. Auf einem Sockel aus kostbarem Holz war sie dort unter einem Glassturz aufgestellt, umgeben von einem stilvollen Gehänge aus Seidenstoffen. Daneben aber an den Wänden standen hohe Regale, angefüllt mit allem, was über dieses unglückselige Gefäß jemals von Kundigen und Unkundigen, von dem Obersten und – leider! – auch von ihm, dem Doktor Sassen, geschrieben und gedruckt worden war. Greifbar deutlich sah der Doktor vor seinem inneren Auge das zierliche wie aus Spinnweben gefertigte Kunstwerk mit den scheinbar ganz frei über dem Rande schwebenden Menschen- und Thierfigürchen. Ohne Zweifel, es war ein Meisterstück der Glasmacherkunst, aber daß es nicht antik war, darüber waren ja sämmtliche Sachkenner einig, nur der Oberst bestand seit einem Jahrzehnt auf seinem Wahn und war ungerecht genug, diesem Wahn sogar das Glück seiner Nichte aufopfern zu wollen. Ach ja, Ulla! Dort über dem Heiligthum der verhängnißvollen Flasche lag ihr Stübchen friedlich im Dämmerlicht der Sommernacht. Jetzt strahlte ihre Lampe mit sanftem Scheine auf, und es war, als wisse sie, daß dort unten im dunklen Gelehrtenzimmer zwei liebende Augen sich sehnsuchtsvoll zu ihr lenkten – leise, allmählich anschwellend klang eine wunderholde Musik herüber, Ulla sang zum Klavier das Lieblingslied des Geliebten, Webers seelenvolle Melodie „Leise, leise, fromme Weise“. So also suchte sie ihn zu trösten – Karl fühlte, wie ihm die Augen feucht wurden vor Liebe und Rührung.

Die Lampe im Stübchen Ullas war erloschen. Dafür leuchtete jetzt ein Licht in dem Zimmer des Obersten auf und glitt langsam durch dieses, an den Fenstern des

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 891. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_891.jpg&oldid=- (Version vom 17.4.2024)