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verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

eingetreten, da gewiß zahlreiche Sonnen im Laufe der Zeit erloschen sind. Andererseits ist nicht zu bezweifeln, daß neue Bildungen sich vorbereiten, wie in jenem Nebelfleck der Andromeda, wo sich der Weltenstoff zu dereinstigen Sonnen und Planeten zusammenballt. So vollzieht sich auch im Weltall ein fortwährendes Entstehen und Vergehen, Aufblühen und Verwelken im ruhelosen Spiel der kosmischen Kräfte. Wann es sein Ende finden wird, weiß niemand, daß es aber ein solches erreichen muß, ist sicher. Die Wissenschaft verfolgt die Kette der Erscheinungen Glied um Glied, ohne Anfang oder Ende derselben zu erreichen, und nur der Glaube setzt an den Beginn derselben ein göttliches „Werde!“


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Antwortlos.

Plauderei von Oscar Justinus.

In der Schule haben wir gelernt, daß die Menschen in fünf Rassen zerfallen. Andere theilen sie ein in gute und böse, in Heiden und Christen, in Deutsche, Franzosen, Engländer etc., in Konservative und Liberale. Ein Kellner versicherte mich, daß für ihn nur zwei Menschenklassen bestehen: solche, die Trinkgeld zahlen, und solche, die keins zahlen. Auch ich theile sie nur in zwei Unterarten: solche, die einen Brief beantworten, und solche, die ihn nicht beantworten.

Man sollte meinen, daß, wie jede mündliche Frage einer Antwort, so auch jede briefliche Anregung einer Erwiderung werth sei. Wenn uns jemand, bei dem wir uns nach dem Wege erkundigen oder den wir um etwas Feuer bitten, ohne Antwort stehen läßt, so halten wir ihn entweder für taub oder für einen unerzogenen Grobian, dem man aus dem Wege gehen muß. Wollten wir aber denselben Maßstab anlegen an die, welche von einem an sie gerichteten Brief kalt lächelnd keine Notiz nehmen, so müßten wir wohl einen erklecklichen Theil der Menschheit in die Klasse der Schwerhörigen oder Grobiane einordnen, und das geht doch nicht recht an!

Im kaufmännischen Leben gilt im allgemeinen der Grundsatz, daß jeder Brief einer Bestätigung, Beantwortung, Erledigung bedürfe. Erfolgt keine, so hat dies nach dem alten Spruche: „Keine Antwort ist auch eine Antwort“ eine bestimmte Bedeutung. Es heißt einfach „nein“. Höfliche Häuser aber schreiben dies noch ausdrücklich. „Wir sind nicht in der Lage, auf Ihre geneigte Offerte zu reflektieren.“ Oder: „Wir sind mit diesem Artikel auf so lange Zeit hinaus versehen –“ oder „Ich muß Ihnen zu meinem größten Bedauern die Mittheilung machen, daß es mir nicht möglich ist, Ihre Wünsche auf Zahlung eines Betrages in diesem Monat zu erfüllen.“ Und diese bessere kaufmännische Gepflogenheit einer Antwort in jedem Falle sollten wir alle auch in unser Privatleben einführen.

Das Idealland pünktlichen schriftlichen Verkehrs ist England. Dort wird es als ein Zeichen von Unbildung angesehen, nicht zu antworten, und ein Mensch, welcher das thut, gilt als kein Gentleman. Der Engländer antwortet auf jeden, auch auf den fremdesten Bettelbrief. „Dear Sir“, „mein lieber Herr,“ beginnt er dann in seiner weltmännischen Höflichkeit, von welcher wir sehr viel lernen könnten, und daran schließt sich vielleicht mit einer Wendung des Bedauerns die Erklärung, daß er augenblicklich oder dauernd, aus Grundsatz oder anderen Ursachen, nicht in der Lage sei, zu helfen.

Nun kann einer zwar anführen, daß es auf die Art, wie eine Bitte abgewiesen werde, gar nicht ankomme, und der Flehende denkt vielleicht achselzuckend: Aus allem hör’ ich nur das Nein! Thatsächlich ist dem aber doch nicht so. Der Schreiber einer Antwort, welche noch dazu mit „Mein lieber Herr“ anfängt, stellt sich auf dieselbe Stufe mit dem Bittenden und behandelt ihn schonend wie seinesgleichen. Außerdem wird dieser innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden belehrt, was er zu erwarten oder nicht zu erwarten hat. In Deutschland, wo man einen lästigen Brief – und unter diesen Begriff fallen alle Briefe, die von uns etwas haben wollen – meistens ärgerlich beiseite schiebt, um ihn erst nach Wochen, am häufigsten gar nicht zu beantworten, wird in dem seines Bescheides Harrenden ein Gefühl der Bitterkeit erzeugt, als halte man ihn auch nicht eines Wörtchens der Erwiderung werth. Wochenlang schwebt er zwischen Hoffnung und Pein und versäumt in dieser quälenden Ungewißheit vielleicht die Gelegenheit, sich auf andere Weise zu helfen.

Sehr häufig entspringt die Versäumniß der Antwort mangelnder Uebung. Das Schreiben ist vielen Leuten nicht recht geläufig, sie können die Sätze nicht glatt und leicht modeln, und der Brief, welcher eine Antwort erheischt, lastet dem Ungeübten monatelang auf dem Gewissen, ehe er sich dazu entschließt, einen reinen Bogen nebst einem Umschlag zu kaufen und mit der halb eingetrockneten Tinte, mit der rostigen Feder und den steifen Fingern die Antwort zu verfassen. Diese Leute machen oft lieber eine große und kostspielige Reise, um sich über etwas mündlich auszusprechen, was sich mittels einer einfachen Postkarte hätte erledigen lassen. Die Schwerfälligkeit im Schreiben bei dem Volke der Dichter und Denker wird wohl mit der Zeit noch ein wenig schwinden; im übrigen hat sie mit der Zahl der sogenannten „Analphabeten“, d. h. derjenigen, die Lesen und Schreiben gar nicht gelernt haben, nichts zu thun. Ein Engländer macht einmal die Bemerkung, daß es in Deutschland eine Menge Menschen giebt, welche Lesen und Schreiben gelernt, es aber im vorgerückten Alter aus Mangel an Uebung wieder verlernt haben, während ihnen in England eine Anzahl gegenübersteht, die niemals eine Schule besucht haben, als schrift- und lesensunkundig aufgewachsen sind, aber durch das Bedürfniß des Tages oder eigenen Wissenstrieb darauf hingedrängt wurden, die schwarze Kunst als reife Männer oder verheirathete Frauen zu lernen, und sie nun mit den regelrecht Geschulten um die Wette brauchen. Unter den Straßenbildern italienischer und spanischer Städte spielen die öffentlichen Schreiber, welchen der Bauer seine Klageschriften, das Mädchen seine Herzensgeheimnisse anvertraut, eine wichtige Rolle. Ich glaube, auch bei uns würde dieses Handwerk seinen Boden finden. Soll es ja da und dort noch vorkommen, daß die Mutter mit ihrem Sohne beim Militär nur durch die Hand des Schulmeisters verkehrt, der ihr gefällig die Begleitbriefe zu ihren nahrhaften Liebesgaben schreibt! Und die „Briefsteller“, welche für alle eintretenden Verhältnisse mit einem schön stilisierten Briefschema an die Hand gehen, erfreuen sich nicht bloß bei unsern Dragonern und Küchenfeen einer dauerhaften Achtung.

Seitdem der englische Postmeister Rowland Hill die Welt mit dem Gedanken des Pennyportos beschenkte, seitdem die Postkarten erfunden sind und neben den Staats- noch verschiedene Stadt-Postanstalten die Beförderung unserer Mittheilungen von einer Stelle zur andern für wenige Pfennige übernehmen, ist das Korrespondieren so billig geworden, daß die Höhe der Portokosten nie und nirgend mehr als Ausrede für eine Nichtbeantwortung dienen kann. In meiner Jugend, wo noch das dreistufige Porto von einem, zwei und drei Silbergroschen im Vaterlande bestand, wohlgemerkt zu einer Zeit, wo man einen Groschen mit größerer Herzbeklemmung ausgab als heutzutage eine Mark, da hatte die Ausrede noch einigermaßen Sinn. Heute geht sie so wenig mehr an wie die einst übliche, daß der Brief „verloren gegangen sei“. Bei der außerordentlichen Straffheit der postalischen Einrichtungen aller Kulturstaaten – Deutschlands an der Spitze – gehen so gut wie gar keine Briefe mehr verloren, es seien denn diejenigen, welche in den Taschen des Absenders oder des abholenden Boten liegen geblieben, und diejenigen, welche überhaupt gar nicht geschrieben worden sind.

Es ist also ausschließlich die alte Gewohnheit, richtiger der alte Schlendrian, welcher zu einer dieser Entschuldigungen greifen läßt. In Wirklichkeit ist es Trägheit oder, wie man sehr häufig aus dem Munde der Mächtigen dieser Erde, der Herren Redakteure, Theaterdirektoren und Räthe aller Art, hört: Ueberbürdung.

Ich lasse es wohl gelten, daß an solchen Stellen nicht alle Eingänge ihre sofortige Erledigung finden können. Aber zugegeben selbst, daß sich daran nichts ändern läßt, müßte der Einsender wenigstens darüber beruhigt werden, daß sein Schriftstück richtig eingegangen und nach dem Zeitpunkt seines Eintreffens ordnungsmäßig in die Reihe der ihrer Erledigung harrenden Angelegenheiten eingefügt worden ist, so daß also auch

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verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1892, Seite 880. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_880.jpg&oldid=- (Version vom 20.3.2023)