Seite:Die Gartenlaube (1892) 875.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

eine rührende dankbare Liebe gefaßt. Das schöne stille Mädchen wußte nun, daß sie für Eine nöthig war, daß Eine schon auf ihren Tritt, ihre Stimme lauschte; und unermüdlich schien ihr Streben, der Leidenden zu helfen. Bevor die Kranke für immer entschlief, richtete sie mit jener Klarheit, die noch einmal die scheidende Seele durchleuchtet, die Augen auf das Antlitz ihrer Pflegetochter und ihre Lippen bewegten sich. Julia beugte sich hinunter, und da verstand sie es:

„Hab’ Dank! Gott vergelte Dir Deine Treue!“

Die Hand des weinenden Mädchens in der ihren haltend, schlief Tante Riekchen ein.

Jetzt war auch das vorüber. Julia war frei, frei wie der Vogel, der sich eben da draußen auf dem Zweige des blühenden Apfelbaums wiegte und seinen Gesang erschallen ließ. Nun breitet er die Flügel aus und fliegt davon, hinein in den blauen Himmel, in die lachende blühende Welt.

Auch sie mußte ihre Flügel heben, aber – es würde ein banger, ein zager Flug werden. Hier bleiben konnte sie nicht. Wer wollte sie? Die Räthin dort drüben in ihrer mürrischen Abgeschlossenheit brauchte sie nicht. Und er? Ach, er hatte nur noch Sinn für seine Bücher und seine Kranken! Mit der Regelmäßigkeit einer Uhr ging er früh fort, kehrte er zurück und hielt seine Sprechstunden, und war er damit fertig, dann wartete der Wagen draußen und er machte seine Besuche in der Umgegend, denn er war der gesuchteste Arzt weit und breit geworden seit dem Tod von „Onkel Doktor“ und kaum imstande, seine Praxis zu bewältigen. Die halben Nächte aber verbrachte er am Schreibtisch. Er lebte nur der Pflicht – die Leere des Hauses empfand er nicht mehr, er ging durch die Oede seines Lebens mit sicherem Schritt und unbewegtem Gesicht. Und doch liefen ihm alle Kinder nach, und doch hatten ihn die alten Frauen so gern und sagten, er sei auch ein Arzt für das Herz. Nur hier, hier schienen ihm die Lippen versiegelt, wo die Erinnerung an vergangenes Glück aus allen Winkeln grüßte.

Julia sah traurig umher, ehe sie den alten Schreibtisch wieder verschloß und den Korb nahm, um in der Küche die Briefe den Flammen zu übergeben.

Sie mußte gehen, sie war hier überflüssig!

Gegen Abend kam sie in die Stube zur Frau Räthin. Die alte Dame saß strickend hinter ihren Geraniumtöpfen und schaute auf den stillen Hof. Sie hatte vor einem Weilchen für das Abendessen Spargel gestochen und ruhte nun aus; sie war noch immer flink in der Wirthschaft und ließ sich nichts abnehmen.

„Nach dem Abendbrot will ich auf den Friedhof gehen,“ sagte sie, das Mädchen gewahrend; „falls der Fritz später nach Hause kommt, soll ihm das Luischen frische Spargel kochen. Bist Du fertig mit dem Ordnen der Sachen?“

„Ja, Tante, ganz fertig, und eben wollt’ ich mit Dir sprechen – sieh, Tante Riekchen hat mich zur Erbin ihres kleinen Nachlasses eingesetzt – es war so gut von ihr – –“

„Nun, es war eben ihre Schuldigkeit,“ erklärte die Räthin trocken.

„Aber,“ fuhr Julia fort, „ich muß Dich bitten, Tante, den lieben alten Möbeln hier im Hause ein Plätzchen zu gönnen, denn mitnehmen kann ich sie doch nicht.“

„Mitnehmen? Wohin denn?“

„Mein Gott, Tante, in die Welt hinaus – was soll ich denn hier?“

„Ja freilich, wenn man’s recht überlegt, was sollst Du hier, ’s ist wahr. Na, meinetwegen können sie da stehen bis an der Welt Ende, die Sachen; Platz ist ja genug im Hause. Lieber Gott!“ Sie nahm die eben abgestrickte Nadel und fuhr damit in ihr weißes Haar, und die Brillengläser wurden feucht; sie mußte sie abwischen, ehe sie weiter strickte. „Hab’ nicht gedacht, daß ich ’mal so ein einsam Alter haben würde,“ murmelte sie. „Aber es ist nun so, und recht hast Du, was sollst Du hier! Ich bin noch rüstig. – Na, da wünsch’ ich Dir denn Glück, man kann es Dir auch gönnen. Und noch einmal – was die Sachen anlangt, laß sie nur stehen da drüben, mich geniert’s nicht; und sollt’ der Fritz noch ’mal vernünftig werden, so hat’s ja droben Platz genug für das neue Glück.“

Damit stand sie auf und rief, das Luischen solle das Essen besorgen, denn sie wolle bald gehen. „Wirst doch noch keinen Hunger haben,“ sagte sie zu Julia, „kannst mit Fritz essen, wenn er kommt.“

Und Julia nickte ihr zu und ging hinaus in den Garten, und da saß sie müßig und schaute mit verträumten Augen auf die Sonnenfunken, die rothgolden durch das Geäst des Nußbaumes fielen und auf dem alten Gartentisch tanzten.

Die Räthin kam nach einem Weilchen durch den Mittelweg und schnitt ein paar der eben erblühenden Rosen ab. „Das waren Riekchens Lieblinge,“ sprach sie, auf die halb verwilderten Centifoliensträucher deutend, „ich werd’ ihr die ersten davon mitnehmen.“ Dann wanderte sie hinaus dem Kirchhof zu, und als sie an einer Straßenecke plötzlich den Sohn traf, sagte sie nur: „Ich will zu den Gräbern, Fritz. Iß nur allein zu Nacht! – Ach, und weißt’s schon? Das Julchen will fort, in die Welt hinaus. Nun, wir können sie nicht halten, jetzt, wo das Riekchen tot ist.“

Er stand da und sah die düstere schwarze Gestalt mit den Rosenknospen in der Hand an, sprach aber kein Wort, er nickte ihr nur zerstreut zu und ging weiter durch die belebte Gasse, auf der die Kinder lärmten und die unter den Strahlen der Sonne in goldigen Staub gehüllt schien. Nur noch ein paar Krankenbesuche waren zu machen, aber während er sonst geduldig an den Betten saß, nahm er heute kaum Platz, und seine Mienen drückten Unruhe und Abspannung aus. Er wußte selbst nicht, wie es kam, daß er den kürzesten Weg nach Hause einschlug durch ein Seitengäßchen, das unmittelbar zu dem Strome hinunterführte. Nie mehr war er hier gegangen seit jenem Schreckenstage; heute sah er das blaugrüne herrliche Wasser wie erstaunt an. Die Wellen waren ja längst hinabgeflossen, die ihm das Kind geraubt, in die sich muthig ein junges Leben geworfen, um ihm das Liebste zu retten – konnte er die anderen dafür anklagen, die jetzt krystallrein dahinrauschten und nichts von damals wußten?

Ach, wie weit trug der Blick heute, wie wunderbar weit! Da kam ein Dampfer hergebraust, nun machte er einen großen Bogen und legte seitwärts an der Landungsbrücke an; und dort oben auf dem Verdeck stand eine weibliche Gestalt, groß und schlank, und in ihrer Hand wehte ein weißes Tuch – Abschiedsgrüße? Ihm zitterte plötzlich die Gestalt vor den Augen – wenn es Julia wäre!

Er riß im eiligen Vorwärtsschreiten den Hut vom Kopfe, und das Haar, auf dessen Blond es wie ein leichter Reif schimmerte, streifte die Fliederdolden, die sich so üppig wie nie auf den Garten über den schmalen Pfad neigten. Und als er die Stufen hinaufgehen wollte zu seinem Garten, da lag eine Rosenknospe auf den zerbröckelnden Steinen – die Mutter hatte sie wohl verloren – und er bückte sich und hob sie auf. Ach, Rosenduft! War er denn tot gewesen, jahrelang tot?

Und nun stockte sein Fuß – unter dem Nußbaum saß Julia. Sie blickte zu ihm herüber mit den süßen dunklen Augen, so mild, so schwesterlich geduldig wie all die trübe Zeit her. Und jetzt stand sie auf und kam ihm entgegen.

„Fritz!“ Es war etwas wie Jubel in ihrer Stimme, „Du im Garten? Aber, gelt, es ist ein schöner Abend? Möchtest Du nicht hier draußen essen?“

Er nickte, setzte sich auf die Bank und verfolgte mit wehmüthigen Augen, wie sie den Gang hinaufschritt, rasch und elastisch. Wie würde es sein, wenn dieser Schritt nicht mehr im Hause erklang?

Und auf einmal flog etwas durch die Luft, gerade vor des Mädchens Füße, sie bückte sich und hielt einen bunten Kinderball in der Hand, und gleich darauf tauchte hinter der Mauer des Nachbargartens ein blondes Köpfchen auf und lugte mit sehnsüchtigen Augen herüber. „Fang!“ rief Julia und warf den Ball zurück, und als das Kind lachend der Aufforderung nachkam, da lachte auch sie, und dieser Doppelklang traf des Mannes Herz, daß es aufwachte aus dem langen Schlummer, daß es schwoll vor Sehnsucht nach Glück, nach vollem goldenen Menschenglück.

Nach wenigen Minuten kam Julia zurück mit dem Tischgeräth, sie sah noch lieblicher aus als sonst in der Freude, ihn wieder im Garten zu sehen nach drei langen Jahren.

Er saß da und drehte die Rosenknospe zwischen den Fingern; in seinem Antlitz zuckte und arbeitete es seltsam. Die Speisen die sie ihm bot, rührte er kaum an. Und dann ward es still zwischen ihnen; auch ihr Mund verstummte, sie sah schweigend in die untergehende Sonne.

Plötzlich stand Fritz auf und trat vor Julia hin.

„Julia, die Mutter sagt, Du wollest uns verlassen.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 875. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_875.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2022)