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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

sah sie abseits von den anderen ein Weib aus dem Volke mit einem Säugling im Arme. Einer blitzschnellen Eingebung folgend, lief sie auf dasselbe zu und stammelte:

„Welch’ ein hübsches Kind!“

„Nehmen Sie es, schnell!“ flüsterte verständnißvoll die Mutter ihr zu.

Delphine nahm den Säugling an sich, küßte ihn, und die Megären stutzten. Das Kind wurde ihr Schutz. Sie verfolgte ruhig mit demselben im Arme ihren Weg, und niemand bedrohte sie mehr. So ging sie bis an den Ponte-Neuf und gab dort das Kind seiner Mutter zurück, die ihr gefolgt war. Einen Augenblick schauten sich beide Frauen an und entfernten sich dann voneinander, ohne ein Wort zu sprechen.

Gott dankend, lief sie nach ihrem Hause in der Rue de Bourbon. Aber dort kam die Dienerschaft ihr schreckensbleich entgegen.

„Was habt Ihr?“

Sie ahnte etwas Furchtbares, da man mit der Antwort zögerte.

„Mein Mann?“

„Ja, Frau Marquise! Man hat ihn geholt!“

„Verhaftet?“

„Ja, er ist nach La Force gebracht worden, vor einer Stunde.“

Also auch dieser Schlag noch! Delphine schwankte und mußte sich setzen. Dann aber raffte sie sich auf, bestellte einen Wagen und ließ sich nach dem Gefängniß La Force fahren. Dort war es, wo die Prinzessin von Lamballe ihr schreckliches Ende gefunden hatte, dort war jetzt Philipp.

Noch währte der Prozeß gegen den General Custine. Delphine theilte ihren Tag in die Sorge für ihn und für seinen Sohn. Von der Conciergerie, wo der General gefangen gehalten wurde, eilte sie nach La Force, wo man ihr gestattet hatte, Philipp zu besuchen. Ihr Schwiegervater war nicht mehr zu retten; das Gericht verurtheilte ihn zum Tode. Am 29. August 1793 wurde er in der Frühe hingerichtet, und seine Zelle erhielt die Königin Marie Antoinette als Vorzimmer zur Guillotine, die ihrer ebenfalls wartete. Für Philipp aber, seinen Sohn, für ihren Mann, den Vater ihres Kindes – für den konnte Delphine ihre Liebe, ihren Eifer, ihre Energie, ihre List, ihr Vermögen noch aufbieten, um ihn dem Blutgerüste zu entziehen.

Sie sparte keinen Gang, kein Flehen, kein Geld, um den Prozeß zu verschleppen. Ihr Mann sollte als Mitwisser der Verrätherei seines Vaters angeklagt werden. Die unsinnigste Anklage genügte, jeden zum Tode zu verurtheilen, den Fouguier-Tinville und der allmächtige Robespierre dazu bestimmt hatten. Von diesen beiden Männern – das sah Delphine bald – war für ihren Gatten nichts zu hoffen, da ein früherer Brief desselben aufgefangen worden war, in dem er ein scharfes Urtheil über die Schreckensmänner gefällt hatte.

Aber sie machte sich nun an den Schließer in La Force, dem die Zelle des Marquis unterstand, und lernte in seiner Tochter Luise ein gutmüthiges junges Mädchen kennen, welches von lebhafter Theilnahme für die schöne Aristokratin erfüllt war. Darauf baute Delphine mit einigen Freunden ihren Rettungsplan. Philipp zählte jetzt erst 25 Jahre, seine Figur war klein und schmächtig genug, um eine unauffällige Verkleidung als Frau zuzulassen. So wurde denn verabredet, daß er Kleider von seiner Frall und diese solche von Luise anlegen sollte, und daß, während Delphine auf einer anderen Treppe das Gefängnißhaus verlasse, er und Luise unter dem Schutze der abendlichen Dämmerung durch den großen Thorweg ihren Ausgang nechmen sollten. Für diesen Dienst wurden dem Mädchen 30000 Franken in Gold sogleich nach gelungener Flucht zugesichert und außerdem eine lebenslängliche Rente von 2000 Franken.

Anfang Januar 1794 sollte Philipp von Custine vor seine Richter gestellt und zu diesem Behufe nach der Conciergerie verbracht werden. Am Vorabend des Tages, da die Ueberführung zu erwarten stand, war alles für seine Rettung bereit. Delphine begab sich nach La Force und traf dort mit Luise zusammen. Aber das Mädchen empfing sie mit thränenvollen Augen.

„Warum weinst Du denn?“

„O, Madame!“ rief sie klagend, „sie allein können ihm noch das Leben retten. Ich flehe ihn vergeblich an; seit heute morgen will er nichts mehr von einer Flucht hören.“

Delphine vernahm den Grund dieser Weigerung. Ein neues Dekret des Wohlfahrtsausschusses bedrohte jeden mit dem Tode, der zur Flucht eines Gefangenen Beistand leiste. Dies Dekret war gedruckt in den Gefängnissen angeschlagen worden, und Custine hatte das Mädchen darauf hingewiesen.

Mit Luise zusammen versuchte Delphine in der Zelle ihren Mann dennoch umzustimmen. Sie mahnte ihn an seinen Sohn; sie versicherte, daß Luise vor jeder Entdeckung sicher sei. Umsonst! Custine wollte sie der Gefahr nicht aussetzen.

„Retten Sie sich doch!“ drang das furchtlose Mädchen von neuem in ihn. „Was mich betrifft, so machen Sie sich keine Sorge! Alles ist bereit, alles wird gelingen. Sie haben mir für meine Hilfe ein Vermögen versprochen; vielleicht können Sie dies Versprechen gar nicht halten. Nun, ich will Sie dennoch retten. Wir werden uns verstecken, wir werden Frankreich verlassen; ich werde für Sie arbeiten. Ich verlange nichts, nichts dafür – aber lassen Sie mich handeln.“

Er schüttelte sein Haupt. „Nein man wird uns einfangen, und Du wirst auf das Schafott kommen, um meinetwillen.“

„Und wenn ich es will?“ rief sie.

Er wankte nicht. Die Stunde verging, welche Delphine für den Besuch bewilligt war; sie mußte endlich gehen, das Gefängniß ohne ihren Mann verlassen. Luise geleitete sie hinaus.

Der Prozeß des jungen Custine war nur eine Fortsetzung desjenigen seines Vaters und endigte ebenfalls mit Verurtheilung. Der Ankläger Fouquier-Tinville wollte es so. Den Verhandlungen vor Gericht wohnte Delphine auf den Wunsch ihres Gatten nicht bei; aber ein letztes Mal besuchte sie ihn am Abend vor seiner Hinrichtung. Schweigend saßen beide nebeneinander in seiner Zelle, sie hatte den Arm um seinen Hals geschlungen. Ein Lebewohl für ewig! Noch tauschen sie wenige Worte – ihr Sohn ist’s, an den sie denken – und dann ein letztes, langes, herzentströmendes Umarmen des jungen Ehepaares.

Am 3. Januar 1794 fiel das Haupt Philipps von Custine unter der Guillotine auf dem Revolutionsplatz.

Mit dreiundzwanzig Jahren, in der Blüthe ihrer körperlichen Anmuth war Delphine ihres Gatten beraubt. Ihr Vermögen war konfisziert, Armuth ihr Los, alles Glück, aller Glanz ihres Daseius dahin, und Trost für alles Verlorene und Zerschlagene nur ihr kleiner Sohn Astolfe. Mit ihm wollte sie sich aus dieser Luft des Todes retten. Sie hoffte als Spitzenhändlerin unter falschem Namen nach Belgien zu entkommen, während die treue Amme ihres Kindes sich mit diesem nach dem Elsaß begeben sollte. In Pyrmont wollten beide sich wieder treffen und von da nach Berlin reisen, wo sich die Gräfin von Sabran mit ihrem Sohn Elzear aufhielt. Durch Bestechung wußte die unglückliche Frau sich einen Paß zu verschaffen. Ihr Haus in der Rue de Bourbon hatte sie sogleich nach der Hinrichtung ihres Mannes verlassen müssen und dann eine kleine Wohnung in der Rue de Lille bezogen. Da packte sie von ihren Sachen zusammen, was sie mit auf die Reise nehmen wollte, und ordnete die nachgelassenen Papiere Philipps sowie ihre Briefe, die sie von den Freunden des Hauses erhalten hatte, um sie in einer Kassette zu verwahren.

Mitten in dieser Beschäftigung vernahm sie verdächtigen Lärm am Eingang ihrer Wohnung. Schnell schlug sie die Kassette zu und schob sie unter ein Sofa; in demselben Augenblick wurde auch die Thür aufgerissen, und die unheimlichen Gestalten einer Kommission des Sichercheitsausschusses drängten sich herein.

„Du bist verhaftet!“ schrie ihr wild der Anführer zu, „denn wir wissen, daß Du auswandern willst.“

Sie widersprach nicht; ein Elender unter ihrer Dienerschaft mußte sie verrathen haben. Die Kommissare entrissen ihr die Brieftasche, die sie vom Tisch weggenommen hatte.

„Aha, der Paß! Der falsche, der erkaufte Paß! Warte, Aristokratin, man wird Dir Deine schönen Goldhaare und Deinen weißen Hals abschneiden!“

Man nahm eine erste Haussuchung vor, sah in Schränken und Kästen nach, wühlte da und stöberte dort herum; unter das Sofa, wo die wichtige Briefkassette stand, blickte man nicht. Dann legte man die Siegel an die Wohnung und führte die junge Frau hinaus. Sie mußte unten auf der Straße mit drei Bewaffneten in eine Droschke steigen, die sie nach dem Gefängniß, einem früheren Karmeliterkloster, brachte.

In allen Gefängnissen von Paris, in den alten wie in den neuen, die man hastig aus Klöstern und Schlössern hergerichtet hatte, gab es in jener Zeit des Schreckens eine Ueberfülle von

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