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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


Du sollst doch hereinkommen zur Mutter,“ bat es, ihn am Rock fassend. Und der Mann starrte das Kind an und ging hinter ihm her in das kleine Haus. Er hatte an seinen Buben denken müssen.

Als er wieder hinaustrat, schlug er den kürzesten Weg nach Hause ein. Das Kind! Ja freilich, das arme Kind! Und es stieg ihm feucht in den Augen auf.

Er befand sich in kürzester Frist wieder in der Stadt, und wäre er nicht von seinen eigenen Gedanken so hingenommen gewesen, er würde bemerkt haben, daß ihn die Leute groß anstarrten und daß die Frauen in den kleinen Bürgerhäusern klirrend die Fenster hinter ihm aufrissen. – Aus einem Fischerhause am Rhein trat ein alter Mann heraus. Er triefte vor Nässe und sein weißes Haar war ohne Bedeckung. Als er des Doktors ansichtig ward, stand er erst verlegen still, dann kam er näher.

„Herr Doktor,“ sagte er stockend, „ich glaube, daheim werden Sie erwartet.“

„Ich? Bei mir zu Hause?“

„Ja, Herr Doktor; man hat Sie überall gesucht, weil – aber erschrecken Sie nicht, Herr Doktor, ich mein’, es ist eines von Ihren Leuten krank geworden.“

Der Doktor griff mechanisch an den Hut und eilte heimwärts, eine tödliche Angst im Herzen. Da hörte er, wie eine alte Frau sagte. „O Gott! Ich möchte der auch nicht sein, der ihm das verkünden muß!“ – Was war geschehen? Hatte Therese . . .?

In wenigen Sekunden hatte er sein Haus erreicht. Wohin sich wenden? Von der Hinterthüre her zogen sich nasse Spuren über die Treppe in den ersten Stock. Also droben . . .

An der Mündung der Treppe stand sein Schwiegervater. Der alte Mann faßte krampfhaft den Arm des Heraufstürmenden. Man sah, er wollte sprechen, aber er konnte nicht; die Thränen rannen ihm über die Wangen. „Im Salon,“ stieß er endlich hervor und winkte mit der Hand. „Geh’ nicht zu hart mit ihr ins Gericht, sie ist gräßlich bestraft.“

Inmitten des reichen, blau dekorierten Gemaches hatte man das Bett des Kindes hingestellt, daneben einen Tisch mit Kissen und Tüchern. Der Mann schwankte plötzlich und stützte sich stöhnend auf das Gitter des Bettchens.

„Du bist es?“ schrie er auf und riß den kleinen starren Körper empor, „Du – Du mußt es sein?“

Auf der anderen Seite des Bettes, die Hände in das halb aufgelöste Haar gekrallt, lag eine bebende schluchzende Frau. „Fritz, vergieb, vergieb!“

Er sah sie nicht an, noch immer hielt er das Kind im Arme, mit bleichem Gesicht nach einem Lebenszeichen suchend. Umsonst! Das kleine Herz hatte für immer aufgehört, zu schlagen!

Stumm legte er den Toten auf das Lager zurück, raffte ein Tuch vom Dache, deckte es über das stumme kalte Gesichtchen und verließ das Zimmer. Hinter ihm blieb es ganz still.

Drunten schloß er sich in seine Studierstube ein und warf sich dann mit einem dumpfen Stöhnen auf das Sofa. Stundenlang lag er so, ohne sich zu rühren, ohne zu denken, ohne sich auch nur zu fragen, wie das Entsetzliche habe geschehen können. Man pochte an die Thüre – er gab keine Antwort.

Endlich am späten Abend kam seine Mutter und rief mit zitternder Stimme: „Fritz, Fritz – komm zu Julia, sie braucht Deine Hilfe!“

Die alte Frau fuhr förmlich zurück, als ihr Sohn öffnete und sie die Verstörung in seinem Gesicht sah. „Gott im Himmel, Fritz,“ schluchzte sie, „Fritz, nimm Deinen Verstand zusammen, denke doch an Deine alte Mutter!“

„Was ist’s mit Julia?“ fragte er hart.

„Lieber Gott, sie hat ja doch das Würmchen retten wollen und ist selbst beinah’ ertrunken! Vorhin war sie bei Besinnung, aber jetzt liegt sie wieder so starr da!“

Er fuhr mit der Hand an die Stirn, dann ging er in das Stübchen des Mädchens. Die alte Dame schloß die Thür hinter ihm, und er trat allein an das Bett. Auf der Kommode flackerte eine Kerze und beleuchtete das blasse Mädchengesicht, das mit einem unheimlich starren Ausdruck in den Kissen ruhte.

„Julia!“ sagte er leise. Da schlug sie die Augen auf und erkannte ihn.

„Fritz!“ Und sie streckte ihm die Hände entgegen. „Fritz, ich wär’ so gern an seiner Statt gestorben.“ Und jahrelanges Leid brach sich Bahn in dem heißen Schluchzen, das nun folgte.

Er vermochte nicht zu sprechen, aber er bückte sich und zog ihre Hand an seine Lippen.

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„Ja, siehst Du, Fritz,“ sagte die Räthin eine halbe Stunde später zu ihrem Sohn, als die alte Doris „ihren Bub’“ in den kleinen Sarg gelegt hatte, „siehst Du, Fritz, sie hatte das Kind an der Hand, ich traf sie noch an der Treppe und fragte: ‚Therese, willst Du das Kind bei dem Winde mit hinausnehmen?‘ ‚Nur bis zu Papa,‘ antwortete sie mir. Und da beruhige ich mich denn und gehe in die Küche und sehe noch, wie sie den Mittelweg so hastig dahinläuft, daß das Kerlchen ihr kaum folgen kann. Und dann habe ich noch einmal das rothe Mützchen hinter dem Strauchwerk schimmern sehen, aber an weiter nichts gedacht. Auf einmal hör’ ich das Julchen schreien und sehe sie hinausrasen den Weg entlang, und wie ich alte Frau dahinter herkomme, da liegt das Julchen im Wasser, und ich sehe das rothe Mützchen des Buben schwimmen und die Leute in einem Nachen herankommen. Und das Julchen ist ganz verschwunden gewesen, und endlich hat sie’s heraufgebracht, das Kind, und wie sie’s ihr abgenommen hatten, da ist sie noch einmal verschwunden und dann wieder aufgetaucht, und da hat sie nach der Stange gestoßen, nach der sie hätte greifen sollen, und der alte Fischer sagte, sie hätte sich um keinen Preis retten lassen wollen, und ganz wie tot haben sie sie hereingetragen. Und den alten Onkel Doktor und den neuen Kollegen, die hatten wir gleich, aber Du warst nicht zu finden. Freilich – es hätte ja auch nicht geholfen bei unserem Engelchen.“

„Willst Du denn nicht zu Therese hinaufgehen?“ fragte sie dann. „Gott im Himmel, sie ist ja schuld daran, denn sie hatte es ganz vergessen, daß sie den Buben mitgenommen, und da ist das kleine Dingelchen allein an den Rhein gepaddelt – aber denke doch, wie nöthig sie ein bißchen Trost hat!“

„Laß, Mutter,“ sagte er, „meinen Trost braucht sie nicht.“

Da band sie sich ein schwarzes Tuch über das Kleid und ging selbst hinauf zu ihrer Schwiegertochter. Aber als sie ein Zimmer nach dem andern öffnete, da war es überall leer, unheimlich leer und still.

„Wo ist die Frau Doktor?“ fragte sie endlich mit klopfendem Herzen in die Küche hinein, wo die Mädchen müßig saßen mit verstörten Gesichtern.

„Drüben bei ihrem Vater,“ antwortete die Köchin.

Die alte Frau ging in die Villa hinüber. Therese war in ihrem Mädchenzimmer; sie wolle niemand sehen hieß es, Herr Krautner aber lasse bitten. Die Räthin trat bei dem alten Herrn ein. Erschreckt sahen sich die beiden an. „Um Gotteswillen, ist’s noch nicht genug an einem Unglück?“ fragte die Räthin, in banger Ahnung das unheilverkündende Gesicht des Alten betrachtend.

Dieser wandte sich kurz um, und da er nicht sprechen konnte, begann er zu pfeifen. Endlich trat er wieder vor die Frau.

„Damals, als mein Hannchen gestorben ist, Frau Nachbarin, da hab’ ich gemeint, etwas Schlimmeres könnt’s nicht geben. Heute weiß ich, daß das ein kleiner Schmerz gewesen ist, gar kein Vergleich zu dem, der mein Herz jetzt zerreißt. Es trifft auch Sie. Meine Tochter – Gott weiß, wie sie so geworden – ist heute morgen zu mir gekommen und hat gesagt, sie will fort vom Fritz – – Sonst habe ich schelten können und zanken, heut’ aber ist mir’s so gewesen, daß ich keine Silbe gefunden habe. Und wie sie gesagt hat, daß sie den Frieder Adami liebt und ihn nach der Scheidung heirathen will, da habe ich erst recht nichts sagen können; nur inwendig, da habe ich mich angeklagt und mich einen Esel geheißen, der da meinte, alles gut zu machen, und nicht bedachte, daß man kein Menschenherz auskennt, selbst nicht sein eigen Fleisch und Blut. Und erst zuletzt habe ich gefragt: ‚Und Dein Kind, Therese?‘ Und da ist’s gerade gewesen, wie sie das Bübchen tot aus dem Wasser gefischt haben.“

Die alte Dame war sprachlos in einen Stuhl gesunken. „O mein Bub’! Mein armer Bub’!“ kam es dann langsam von ihren Lippen. Und der alte Mann drückte ihr die Hand und nickte still mit dem grauen Kopf. Endlich sagte er:

„Ich kann nichts dafür, von mir aus ist sie rechtlich gewöhnt, und ich war so glücklich, als sie den braven Mann bekam. Wenn es helfen könnte – wie gerne wollt’ ich mein altes Leben hingeben! Aber, Frau Nachbarin, es giebt einen über uns, welcher die Schicksale lenkt, sagte mein Hannchen immer. – Stillhalten, Frau Nachbarin, stillhalten!“

(Schluß folgt.)


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