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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

„Nein, kein Wort! Und als Mann von Ehre würde er auch gar nicht gehen. Glaubst Du, daß er mich jetzt in dieser Lage allein läßt? Die Bitte wäre vergebens. – Aber sei beruhigt; ich kehre in das Haus meines Vaters zurück, und alles wird sich in Frieden ordnen lassen – nur quäle mich jetzt nicht länger! Uebrigens,“ setzte sie hinzu, „die Sache muß bald ihren Abschluß finden, damit es sich entscheiden kann, ob Frieder wieder Soldat wird oder ob wir auf Reisen gehen, je nachdem – –“

„So will ich morgen früh noch einmal zu Frieder hinüber,“ unterbrach Julia. „Ein Funke von Besonnenheit wird ja noch in ihm sein und von Rücksicht auf das Haus, dessen Gastfreundschaft er genießt.“

Therese zuckte die Schultern und lehnte sich in die Kissen zurück. An der Thür zögerte Julia und blickte noch einmal hinüber zu der verblendeten Frau, aber die hielt die verweinten Augen fest geschlossen, und die Hände lagen zur Faust geballt auf der Decke. Da schloß sie wortlos die Thür.

„O, Du armer Bub’!“ flüsterte das Mädchen, im Kinderzimmer über das Bett des Knaben gebeugt, und aus den Kissen heraus schluchzte die Wärterin. „Ach, Fräuleinchen, wenn eines so muthwillig sein Glück zerschlagen will – – Sie glauben’s nicht, was der Herr die Zeit her ausgestanden und welche Engelsgeduld er gehabt hat mit der Frau.“

„Sie ist krank, Doris, es wird wohl wieder anders!“

„Ja, ja – wenn sie ihren Willen kriegt, sonst nicht!“ –

Julia ging hinunter in ihr Zimmer, aber sie wußte nicht, was beginnen. Schlafen? Ihre Nerven waren überreizt, sie hätte es nicht vermocht. Sie begann Toilette zu machen; das kühle Wasser that ihren heißen Wangen gut, die noch brannten von der Unterredung mit Therese. Wie gräßlich war diese Welt! An was konnte man denn noch glauben, wenn nicht mehr an die Treue der Frau, an die Liebe der Mutter?

Sie war ans Fenster getreten und schaute über die Gärten weg, die im Nebel lagen. Nichts vom Strome und von der Aue war zu sehen, nur ein bläuliches Dunstmeer, das alles verbarg. Was würde der Tag heute bringen? Noch lag er verschleiert. Aber wenn der Abend sinkt – wer weiß, wie anders es dann hier ist. –

Im Studierzimmer saß bei der erlöschenden Lampe, deren gelblichrother Schein sich mit dem fahlen Morgenlicht mischte, der Doktor, vor sich die Hefte, darin er geschrieben, die Feder noch in der Hand.

Er dachte an ganz anderes als an die wissenschaftliche Frage, über die er vorhin geschrieben hatte und über die er auf dem nächsten ärztlichen Kongreß reden wollte. Was war mit Therese vorgegangen? Das war kein Eigensinn und keine Laune mehr, das war ein ernstliches Nervenleiden, und baldige Abhilfe that noth! – Wo war sein goldenes Glück geblieben? Die reizenden Stunden droben in ihrem kleinen Boudoir, die jauchzende Freude von Mutter und Kind, daran er sich nicht satt sehen konnte? Er grübelte. Wann hatte er nur die ersten Anzeichen ihrer veränderten Stimmung bemerkt? Und dann tauchte ein blasses schönes Antlitz vor seinem Auge auf, ein paar blitzender dunkler Augen – Julia. Er schüttelt unmuthig den Kopf und greift zur Feder, ein Gemisch von Verachtung und schmerzlichem Mitleid überkommt ihn.

Wohin mit ihr?

Läßt man sie hier? Aber man weiß ja nicht, welcher Art ihre Beziehungen sind – wer soll sie hüten? Die alte gelähmte Tante? Die strenge, dem Mädchen gegenüber allzustrenge Mutter?

Ja, das kommt davon – sie ist nicht besser als ein Dienstmädchen gehalten worden; sie hat keinerlei Vergnügen beanspruchen dürfen wie andere junge Mädchen ihres Alters, nun rächt sich’s. Und doch – es kann ja nicht möglich sein! Ihre Züge können so nicht täuschen!

„Ach, was hat man für Noth mit dem Weibervolk!“ sagte er laut, als wollte er versuchen, sich mit einem Scherz aus seinen trübseligen Gedanken zu reißen. „Die eine krank, die andere – noch schlimmer!“

Und er erhob sich mit den schweren Gliedern eines Menschen, der die Nacht anstatt im Bett auf einem Stuhle verbracht hat, schob die Papiere zusammen und schickte sich an, hinaufzugehen.

Im Flure stand seine Mutter mit verärgertem Gesicht, das graue Morgenkleid flüchtig zugeknöpft, die Haube mit den lila Bändern schief auf dem lässig gekämmten Haare.

„Nun ist’s aber doch an der Zeit, Fritz, daß Du mit Julias Vormund redest, und wenn Du es nicht thust, werde ich hingehen. Heute früh, wie die Mädchen aufstehen, ist die Hausthür nach dem Garten unverschlossen und das Zimmer von Fräulein Julia leer. Haältst Du sie abends fest, so läuft sie des Morgens davon – ums Himmelswillen, wer hätte das gedacht!“

Er sah traurig überrascht aus. Da erblickte er in der Hand der Mutter zusammengeknüllt das unselige Tuch von gestern.

Sie bemerkte seinen fragenden Blick. „Das hab’ ich eben aufgehoben, dort an der Treppe hat’s gelegen,“ fuhr sie empört fort. „So geht die Julia mit den Sachen um. Und wenn’s noch ihr Tuch wär’, aber das hatte ihr die Therese geborgt aus Gnad’ und Barmherzigkeit, und –“

„Das Tuch gehört Therese?“ fragte er.

„Ja wohl!“ ertönte von oben die Stimme der Jungfer Theresens, und die robuste Blondine kam die Treppe herunter und streckte die Hand nach dem Tuch aus. „Frau Doktor haben’s gestern abend schon vermißt und haben gesagt, ich sollt’ es suchen.“

„Das Tuch gehört meiner Frau?“

„Ja, Herr Doktor, das Fräulein hat’s nur einmal an dem Abend getragen, als der Herr Lieutenant in der ‚Traube‘ geredet hat. Am andern Tage hat sie’s schon wiedergebracht, und nun –“

„Wann hat meine Frau das Tuch verloren?“ Die Stimme des Mannes klang so tonlos, daß die alte Dame ihn verwundert ansah.

„Ich weiß nicht,“ berichtete das Mädchen; „aber ich meine, gestern abend hat’s die gnädige Frau noch umgehabt, als sie in den Garten gegangen ist.“

„Es ist gut, ich selbst will das Tuch meiner Frau geben.“

Er nahm es und that ein paar Schritte der Treppe zu, drehte sich dann unschlüssig wieder um und endlich stieg er doch hinauf. Der Räthin war es, als strauchle er, und sie sah, wie er tastend nach dem Geländer griff.

Therese lag noch im Bett; das Zimmer roch nach Eau de Cologne und Aether. Mit schweren Schritten kam Fritz herein, ging zum Fenster und riß die Vorhänge auseinander, daß das Tageslicht hereinströmte. Und nun wandte er sich zu der jungen Frau, und seine Hand hielt ihr das Tuch entgegen, aber sie zitterte, diese Hand.

„Ist dies Dein Tuch. Therese?“

„Weshalb denn?“ fragte sie. „Warum?“

„Ist dies Dein Tuch, Therese?“

„Ja!“

„Und seit wann vermißt Du es?“

Sie zuckte die Achseln. „Ich glaube, seit gestern,“ antwortete sie gleichgültig. Dann erweiterten sich ihre Augen schreckhaft. „Um Gotteswillen, Fritz!“ stieß sie hervor – das war der Blick, der ihr schon einmal ein Grauen eingejagt hatte!

„Besinne Dich,“ sagte er, „Du wirst mir nachher genau erzählen, wo Du das Tuch verloren hast. Ich komme wieder, wenn ich ruhiger geworden bin.“

Und das Tuch auf einen Tisch schleudernd, verließ er das Zimmer. Drunten im Flure suchte er nach Stock und Hut, und dann schritt er durch die Gassen auf die Landstraße hinaus. Rechts bog ein Feldweg ab, von kahlen Obstbäumen umsäumt; in diesen lenkte er ein. Er riß im Gehen den Hut vom Kopfe und ließ sich den Februarwind um die Stirn wehen, immer weiter wandernd – immer weiter. Und vor seinen Augen flatterte es wie ein weißes goldumsäumtes Tuch, vor seinen Augen stand der Platz, an dem er es gefunden – das kleine halbfinstere Gemach mit dem altmodischen Sofa, so weltentrückt, so heimlich wie möglich. und da, vor dem Sofa, hatte das Tuch gelegen! Und nun kamen sie, die Erinnerungen, und schlangen Glied um Glied zu einer unheilvollen Kette.

War er denn blind und taub gewesen? Alles, alles fiel ihm ein. Da war er einmal rasch in das Eßzimmer getreten, und da hatte sich der Frieder just mit möglichster Gelassenheit von seinen Knien erhoben und gesagt, er könne das Zwirnknäuel nicht finden .... ja, ja, der Frieder – der Frieder!

Der Doktor war wie ein Toller gelaufen; er stand plötzlich am Eingang eines kleinen Dorfes, in dem er eine Schwerkranke hatte. – Mochte sie sterben und verderben! –

Er wandte wieder um. Da rannte ihm ein Kind nach, ein Bübchen mit blondem Haar und blauen Augen. „Herr Doktor,

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