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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Julia hatte unwillkürlich Therese angeschaut. Das Gesicht der jungen Frau war fast weiß; wie verzehrend hingen ihre Blicke an dem schlanken Manne dort oben. Und nun wandte er langsam sein Gesicht ihr zu und sekundenlang tauchten vier Augen ineinander in einem Blick, der Julias Herz wie wahnsinnig pochen machte, der ihr das Blut in die Wangen trieb, bis ein Schwindel sie erfaßte. Sie hörte nicht, was ihr Bruder noch sprach, sie hatte die Hände ineinander verschränkt, so fest, daß es sie schmerzte. Sie dachte nur eins – ob Fritz diesen Blick bemerkt hatte, und was denn nun werden solle, nachdem die Zwei sich so angeschaut und – großer Gott! Bisher hatte sie ja immer nur Angst gehabt, daß Frieder sich abermals von seiner Liebe hinreißen lassen, daß er unglücklich sein könnte, wenn er sie sähe – an Therese hatte sie nicht gedacht, sie war ja die Frau, die geliebte Frau eines andern, glücklich und beneidenswerth. Und nun – – nein, es war ja nicht möglich! Sie zwang sich, ruhig zu sein, sie blickte zu der jungen Frau hinüber. Die saß setzt mit rosigem Gesicht da, langsam den Fächer bewegend, und schien ernst aber unbewegt zuzuhören. Keine Spur mehr von jenem blitzartigen Austausch verborgenen Verständnisses wie vorhin. Sie sah auf Fritz; er saß ruhig zwischen seinem Schwiegervater und dem Onkel Doktor und folgte eifrig den Worten des Redners. Und sie sah über die ganze Versammlung hin – lauter der Situation angemessene gespannte Mienen. Sie athmete auf. Das Schreckliche hatte niemand gemerkt als sie – war es denn wirklich gewesen, war’s nicht ein Traum?

Und doch konnte sie das Auge nicht mehr von den beiden lassen. Aber sie schauten sich nicht mehr an. Ein paarmal bei heiteren Schilderungen lief beifälliges Lächeln die Reihen entlang, um Theresens Mund aber zuckte es nicht einmal, und Julia meinte, sie höre gar nicht, was er sage, sie denke – o sie denke – mein Gott, an was? Und das erstickende, athembeklemmende Gefühl überkam sie wieder.

Nun hatte er geendet; ein lautes Beifallklatschen hallte durch den Saal. Julia sah, wie ihr Bruder die zwei Stufen des Podiums herunterschritt und die ausgestreckte Hand Theresens mit unbewegtem Gesicht an die Lippen führte – dann trat er zu der alten Dame und küßte ihr ebenfalls die Hand.

„Schön! Sehr schön!“ flüsterte Fräulein Riekchen matt. „Aber – Frieder – nein, nicht hier – später!“

„Was wünschest Du, Tante?“

„Ach, mein Bub’, ich hatte gar nicht gewußt, daß Dich ein Kummer fortgetrieben hat,“ sagte sie mit Thränen im Auge.

Er lächette. „Man muß seine Rede ein wenig ausschmücken; beunruhige Dich nicht, Tante!“

Er schob selbst den Fahrstuhl den schmalen Gang zwischen den Sitzen hin, und Julia schritt hinter ihnen, stumm, mit glühenden Wangen und gesenkten Augen.

In der Nähe der Thür, wo sich noch die Menschen drängten, traf man mit Papa Krautner zusammen. Dieser lenkte plötzlich den Fahrstuhl auf eine Seitenthür zu und winkte den anderen, nachzukommen; ein paar Sekunden später befand sich die Familie allein in einem kleinen Nebenzimmer. In dessen Mitte unter dem brennenden Kronleuchter stand ein gedeckter Tisch. auf dem, verheißungsvoll genug, jedem Teller eine Anzahl Gläser zugesellt war.

Der alte Herr Krautner schien ganz berauscht von den Erfolgen seines Gastes und hatte sich vorgenommen, den netten tüchtigen Kerl, der sich so brav herausgemacht hatte, ordentlich zu feiern.

„So,“ sagte er, „und nun wollen wir auf das Wohl des Redners trinken – bitte die Herrschaften, Platz zu nehmen, die Austern kommen bald.“

Tante Riekchen erklärte aber sofort aufs bestimmteste, sie wolle heim, und der Doktor sagte, er müsse so wie so noch rasch zu einem Schwerkranken und wolle dann gleich die Tante nach Hause bringen. Nun befahl der Gastgeber, man solle mit dem Servieren warten, und benutzte die Pause, um drinnen in der Gaststube ein Glas „Echtes“ zu trinken.

Julia fand sich plötzlich mit Frieder und Therese allein. Es war nicht sehr warm in dem Zimmer, das eine schäbige Gasthofeleganz zeigte, dennoch schien es ihr furchtbar schwül. Therese saß auf dem mit rothem Plüsch bezogenen Sofa, Frieder stand vor dem gedeckten Tisch und las die Speisekarte.

Zerstreut schaute Julia im Zimmer umher, sie betrachtete die Oeldruckbilder des Kaisers und der Kaiserin und die schrecklichen Tapeten.

Sie hätte nach Hause gehen müssen, um die erregte alte Frau zu beruhigen, nach der Räthin zu sehen, deren Kopfweh nach solchen Migränetagen sich gegen Abend in Eigensinn und Schelten aufzulösen pflegte, und es hielt sie doch wie mit eisernen Klammern auf ihrem Platze; sie wollte nicht, daß die beiden allein bleiben sollten – wurden sie heute vor sich selbst bewahrt, dann mochte morgen im nüchternen Tageslicht der tolle Spuk verschwunden sein.

Und endlich kam der Doktor wieder, und nun war ja alles gut.

Sie erhob sich.

„Bitte, nehmt es mir nicht übel, wenn ich gehe,“ sagte sie, „ich glaube, es ist nicht recht, daß ich die Tante allein lasse.“ Und schon war sie an der Thür.

„Aber, Julia!“ rief der Doktor und folgte ihr.

Doch sie eilte mit dem Rufe. „Ich bitte Dich, Fritz, bleibe!“ die Treppe hinunter, ergriff ihren Mantel, der in der Garderobe noch einsam neben Theresens Sachen am Nagel hing, und eilte hinaus auf die dunkle Straße.

Plötzlich fühlte sie sich gehalten.

„So erlaube wenigstens, daß ich Dich nach Hause begleite,“ sagte der Doktor, „der Weg ist weit, und es liegt ein Stückchen einsamer Chaussee dazwischen.“

„Ich bitte Dich, Fritz, geh’! Dein Schwiegervater wird anfangen wollen zu speisen,“ bat sie ungeduldig.

„Papa Krautner? Der sitzt jetzt noch hinter einem frisch bestellten Glas und disputiert so eifrig mit Onkel Doktor, daß er nicht eher daran denken wird, er habe Gäste, bis ich ihn am Rockärmel nehme. Die paar Minuten machen nichts mehr aus.“

„Ich will aber nicht, daß Du mitgehst!“ rief sie außer sich, „hörst Du, ich will nicht!“ Sie stampfte hörbar auf den Boden. „Ich kann mich allein schützen!“ – Und im Scheine der Straßenlaterne sah er ein aufgeregtes ängstliches Gesicht, aus den Augen aber leuchtete ein entschiedener Wille.

Sie wandte ihm den Rücken und ging raschen Schrittes davon.

Er zuckte die Schultern und kehrte zurück. „Wunderlich,“ sagte er, „nicht die kleinste Gefälligkeit nimmt sie an. Meine Mutter würde es ‚Bettelstolz‘ nennen – oder steckt ’was anderes dahinter? Ich weiß doch, daß sie ungern abends allein auf der Straße geht.“

Er trat in die Gaststube und holte den Schwiegervater, der mit rothem Kopfe seine kolonialpolitischen Ansichten verfocht. „Du Papachen, wir wollen essen; droben warten Therese und Frieder mit Schmerzen auf uns.“

Als sie eintraten, stand die junge Frau an dem eisernen Ofen, hatte ihren Fuß auf den Vorsprung der Ofenthür gesetzt und ließ den Flammenschein darüber spielen. Frieder kam eben vom Fenster zurück.

„Endlich!“ murrte Therese, „wir haben eine Ewigkeit gewartet.“

Fritz zog sie zum Tische. „Du glühst ja förmlich,“ sagte er, „wie kannst Du Dich so dicht an den eisernen Ofen stellen? Du wirst Dir Deinen schönen Teint verderben, Du Leichtsinn!“

Sie schauerte zusammen. „Mich fror so sehr,“ murmelte sie und betrachtete angelegentlich die Nummer in ihrer Serviette.

*  *  *

„Fritz,“ bat am anderen Tage Fräutein Trautmann, „weißt Du denn nicht, ob Frieder etwa eine unglückliche Liebe gehabt hat?“ Die alte Dame kam gar nicht zur Ruhe seit gestern. „Wie hat er doch gesagt – ‚Ich wollte alten Gram heilen in neuer Luft‘?“

Der Doktor lächelte.

Weißt Du, Tante, Klappern gehört zum Handwerk. Frieder hat’s verstanden, sich sofort der hiesigen Damenwelt interessant zu machen. Meines Erachtens sieht er nicht aus wie ein Liebeskranker, und – ehrlich gestanden – wenn einer wirklich deshalb fortgeht, so hängt er es nicht an die große Glocke. Vielleicht ist’s ja auch möglich, daß er hier noch eine alte Flamme

hat, der er aufbinden wollte, daß er ihrer Sprödigkeit halber

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 831. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_831.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2022)