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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

„Engere Bande?“

„Nun ja,“ stammelte er verwirrt, „Bande der Verwandtschaft. Lassen Sie es mich nur offen gestehen: dies Vortragsabonnement hat mir das Glück meines Lebens gebracht!“

Hier gerieth er ins Stottern, verhaspelte sich mehrmals in einem Satze, aus dessen verworrenen Tiefen immer wieder das Wort „sie“ hervorzitterte, das er auf die Nichte, die Tante aber, als groß geschrieben, auf sich bezog, und schloß endlich mit der Frage, ob er in drei Tagen kommen dürfe.

Inzwischen waren sie am Haus der Tante angelangt, auf das diensteifrige Klingeln von Achilles erschien das Mädchen und riß die Hausthür auf. Das Fräulein sah ihn noch immer mit einem sonderbaren Ausdruck an. „Ja, was sind Sie denn eigentlich?“ fragte sie schließlich.

„Bankbeamter Schmitt – Achilles Schmitt –“

„Achilles? O wie trojanisch!“ bemerkte sie mit plötzlicher Freundlichkeit. „Auf Wiedersehen, Herr Schmitt!“

Der wohlbeleibte Hausgeist schlug die Thüre zu; Achilles stand allein auf der glatten Straße.

Das habe ich klug gemacht! sagte er selbstzufrieden. Also in drei Tagen – o! Warum sie nur „trojanisch“ gesagt hat? Achilles war doch wohl mehr ein Grieche!

Und mit einem Herzen voll Seligkeit und Hoffnung stapfte er langsam und vorsichtig über die nächtliche Straße nach Hause. –

Nun kamen die drei schönsten Tage in Achilles Schmitts Leben – Tage ersten Ranges, erster Güte. Die Menschen, mit denen er zusammentraf, wunderten sich über ihn. Was hatte er nur? Die blauen Augen strahlten so sonderbar durch die Brille, und alles an ihm, was bisher indifferent, durchschnittsmäßig gewesen war, trug plötzlich den Stempel einer seltsamen unbeholfenen Seligkeit, bis endlich die Entscheidungsstunde kam und seine Madonna aus dem Rahmen trat.

Klopfenden Herzens ging er in das Haus. Der dicken Köchin drückte er gleich zum Anfang ein großes Trinkgeld in die Hand. Dann stand er im Salon, wartend, Bilder anstarrend ohne eine Ahnung davon, was sie vorstellten – und endlich knarrte die Thür und das aus Berlin zurückgekehrte Heiligenbild stand vor ihm. Hier erreichte das kurze Glück, das Herrn Schmitt beschieden war, seinen Gipfel.

Das Mädchen nickte ihm lächelnd zu, und natürlich verschönte dieses Lächeln ihre Züge noch.

„Wie freue ich mich!“ begann sie. „Sie glauben nicht, wie glücklich ich bin, daß sich alles so gemacht hat! O, wie schön wird nun auch für mich das Leben sein! Aber setzen Sie sich doch, Herr Schmitt – bitte, Ihren Hut!“

Und sie nahm ihm den Hut aus der Hand, so daß er mit seinen ungeschickten Armen fast hilflos dastand, bot ihm einen Stuhl an, setzte sich in die Sofaecke und fuhr fort:

„Verzeihett Sie mir, daß ich gleich gekommen bin! Aber die Tante ist noch bei der Toilette, und sehen Sie – ich wollte Sie doch so gern allein sprechen!“

Er sah sie dankbar an und wollte nun auch etwas sagen, natürlich ihren Namen –

„Wie heißen Sie nur?“ fragte er schüchtern, „ich meine den Vornamen – alles andere weiß ich bereits aus dem Adreßbuch.“

„Ja so,“ entgegnete sie, „das müssen Sie allerdings erfahren! Getauft bin ich Antoinette, aber so nennt mich zum Glück niemand. Antoinette klingt so geziert. Sagen Sie nur auch wie die anderen alle: ‚Toni‘.“

„Toni!“ stammelte er und griff nach ihrer Hand. „Wie bin ich glücklich!“

„Wirklich? Wie mich das freut! Aber Sie verdienen es auch, glücklich zu sein, und die Tante ebenso –“

„Die Tante?“ fragte er verwundert.

„Nun natürlich! Sie muß übrigens gleich kommen, und vorher, Herr Schmitt – vorher möchte ich Sie noch um etwas bitten. legen Sie auch für mich ein gutes Wort ein!“

„Aber gewiß –“

„Sie müssen nämlich wissen, es ist für mich geradezu ein Glücksfall, daß die Tante sich noch verheirathet! Zu erwarten war es ja nicht mehr. Tante ist in vielen Dingen so schwierig, wie soll ich sagen, so streng – o, Sie brauchen nicht zu erschrecken, Herr Schmitt! Sie werden das nicht empfinden – Liebe gleicht ja alles aus! Allein sie hätte mir ohne diese Wendung wohl schwerlich gestattet, zu heirathen, und da ich ebenfalls Pläne habe“ – hier zupfte sie verlegen an ihrem Taschentuch – „ja, da ich sogar schou ganz regelrecht verlobt bin –“

Achilles war aufgesprungen. In ihm wurde es mit einem Male schrecklich klar. „Fräulein Toni!“ stieß er hervor, „wer ist denn eigentlich Ihr Bräutigam?“

Auch Toni fuhr in die Höhe. „Aber Herr Schmitt, Sie sind ja schrecklich blaß geworden! Nicht wahr, das Verloben greift an? Indessen beruhigen Sie sich nur, die einleitenden Feierlichkeiten sind das Schlimmste – wenn man erst das Jawort hat, so wird es wirklich sehr nett.“

„Den Namen,“ rief er, „den Namen Ihres Bräutigams!“

„O – Sie kennen ihn!“ entgegnete sie, erstaunt über sein aufgeregtes Benehmen. „Sie haben ja sein Vortragsabonnement übernommen, Platz 102 – Sie wissen doch! Im Stadthaus sahen wir uns – dann reiste er fort – ach, Sie glauben nicht, welchen Schrecken ich bekam, als statt seiner dann plötzlich Sie erschienen! Ich konnte ja nicht ahnen, daß derselbe Platz auch Ihnen und meiner Tante noch Glück bringen sollte. Dann traf ich ihn in Berlin wieder, zufällig – in der Pferdebahn – und dann – nun dann hat sich’s eben gemacht! Nicht wahr, Herr Schmitt, wir feiern Doppelverlobung – aber was haben Sie nur? Sie sehen ja ganz leichenblaß aus!“

Achilles war auf einen Stuhl gesunken.

„Antworten Sie doch!“ flehte Toni. „Nicht wahr, Sie setzen es bei der Tante durch, daß wir beide uns auch haben dürfen?“

Da nahm er ihre Hände in die seinen, Hände, die ihm trotz ihrer Nähe im Grunde ebenso unerreichbar waren als die gemalten Finger der Glasheiligen im Dome, und sagte vernichtet: „Alles thu’ ich, was Sie wünschen, Toni!“

Da ging die Thüre auf und die Tante rauschte herein. Sie trug ein altmodisches Ripskleid und eine seltsame Frisur. Selbst Achilles, der kein Modegeck und besonders in diesem Augenblick keiner Kritik fähig war, ahnte dunkel, daß so etwas unerlaubt sei.

Toni flog ihr um den Hals. „Wir machen Doppelverlobung und morgen steht’s unter den Anzeigen!“ Dann umarmte sie Herrn Schmitt und rief selig: „Onkel Achilles, wie danke ich Dir!“

Er wußte nicht, was thun. Die Situation trieb ihn weiter. Nur eins stand klar vor seiner Seele: aufklären konnte er das Mißverständniß nicht, jetzt nicht. Dazu reichte sein Muth nicht aus. So gab er denn der Tante die Hand, stammelte Worte von Ergebung, Achtung, Dankbarkeit. Sie hörte ihn gnädig an. Auf ihrem Gesicht stand geschrieben, was sie dachte. „Wie wird mein Kränzchen sich wundern!“

Zuletzt erschien noch Leonhardt, der junge Architekt, mit einem großen, kleidsamen Schlapphut und einer genialen Kravattenschleife von überzeugendstem Blau. In der Erinnerung glaubte Achilles später noch eine Bowle auftauchen zu sehen, die man getrunken hatte, Scherze des übermüthigen Architekten, das strenge starkknochige Gesicht der Tante und ein Madonnenprofil, das, von ihm abgewendet, lächelnd in die Züge eines Glücklicheren schaute.

*  *  *

Am Tage darauf – Leonhardt war stets für rasche Erledigung – stand die Doppelverlobung im Tageblatt.

Zwei Tage erschien Achilles nicht bei seiner Braut. Er ließ sich mit einer heftigen Erkältung entschuldigen. In Wahrheit war alles in ihm vernichtet und zerbrochen. Am dritten Tage erschien der Architekt in seiner Wohnung und sagte energisch:

„Schmitt – Ihr Betragen ist nur mit etwas zu erklären, mit Zahnweh. Haben Sie das aber nicht, so sind Sie unentschuldbar und müssen mit!“

Achilles sah ihn mit dem traurigen Blick eines kranken Thieres an. Da drohte Leonhardt mit dem Finger.

„Den wohlmeinenden Rath gebe ich Ihnen: machen Sie die Tante nicht böse! Ich versichere Sie, in ihrem Grimm kann sie furchtbar sein, und ich glaube, ziemlich geladen ist sie schon –“

Schmitt griff nach seinem Ueberzieher. Plötzlich ließ er ihn fallen. „Ich kann nicht, Leonhardt!“ rief er, „ich kann wirklich nicht – ich habe mich geirrt.“

Der Architekt nahm eine kalte strafende Miene an. „Herr Schmitt,“ sagte er streng, „in solchen Dingen irrt man sich nicht. Thut man es aber doch, so ist man gewissenlos. Nun, ich habe meine Toni, und zum Glück gehen mich die Angelegenheiten ihrer Tante nicht allzuviel an.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 823. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_823.jpg&oldid=- (Version vom 19.5.2023)