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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

weiblichen Vortragsmarder, die es viel zu billig finden, für eine einzige Mark von einem zugereisten Genie aus der Tagesprosa in reine Höhen gehoben zu werden. Sie sah in dem Kichern eine Entweihung und wandte sich drohend um. Unwillkürlich rückte Achilles ein wenig nach rechts, und zufällig streifte da sein Blick den Seitendivan, neben dem er saß. Himmel! dachte er, ist so etwas denn möglich?

Er blickte gerade in das Gesicht eines Mädchens hinein, in ein blondes frommes unbewegliches Gesicht, das dem vortragenden Stutzer mit staunender Aufmerksamkeit zugekehrt war. Schnurgerade saß das Mädchen da, die Hände in braunem Leder sittsam auf dem dunkelblauen Kleide ineinandergelegt; sie rührte und regte sich nicht, sie war ganz wie ein Madonnenbild aus dem Glasfenster eines Domes, die Toilette natürlich zeitgemäß umgestaltet.

In derselben Minute begann der Recitator, „lyrisch“ zu werden – es waren echte Liebeslieder, tiefe Klänge von Lust und Glück. Die Backfische lachten wieder; sie fanden den Mann da oben in seiner unbeweglichen Haltung gar zu komisch; er aber, Achilles Schmitt, saß wie ein Veränderter da, zwiefach gefangen von Poesie und Liebe. Das giebt immer ein fragliches Gemisch und unsichere Folgen – zuweilen eine Heirath, zuweilen ein Unglück, meistens eine Thorheit.

Als Schmitt nach Hause kam, dachte er unaufhärlich an die Nachbarin auf dem rothen Divan. War es denn möglich, daß er, der solide gesetzte Achilles, sich so plötzlich wie ein spazierengehender Primaner verliebt hatte?

Mit Spannung sehnte er den nächsten Vortragsabend herbei. Als dieser endlich kam, ging Achilles vorher zum Friseur, band dann einen modernen Klappkragen um, zog neue Raupenhandschuhe an und war zitternd vor Hoffnung bereits mit den Ersten im Saale. Von der Furcht gepeinigt, daß sie am Ende doch nicht wiederkomme, wartete er ängstlich auf seinem Stuhle. Da plötzlich glitt sie an ihm vorbei; ihm war, als streife ihr Blick über ihn hin – er sah den Saum ihres blauen Kleides, sah, wie sie sich ruhig und gemessen niederließ, und wagte noch immer nicht aufzuschauen. Erst ganz spät – der Wanderprofessor, der heute über ägyptische Dynastien las, war bereits bei Ramses dem so und sovielten angelangt und sezierte selbigen sehr hübsch und übersichtlich für das Verständniß der mitteldeutschen Fabrikstadt – erst nach langem Kampfe wanderte sein Blick zu ihr hin, schüchtern und anbetend. Nein, wie reizend sie war! Ob er wohl den Muth finden würde, ihr beim Fortgehen zu folgen, um zu erfahren, wo sie wohnte, wer sie war? Er taxierte seinen Besitz an Muth – nein, zu einem solchen Wagniß reichte er nicht aus.

Und doch hatte ihn die blaue Karte glücklich gemacht, seinem Leben Inhalt gegeben, seinen Träumen Schimmer. Sonst träumte er stets von Kurszetteln, von den Gesichtern fremder Buchhalter – wenn es schlimm kam, von Bankerott und Unterschlagung. Jetzt lugte zu jeder Ecke seines Traums eine wie auf Glas gemalte Heilige herein, und dunkel kam ihm die Ahnung, daß sein Leben doch schöner werden könne, daß er nicht immer im zweiten Range zu sitzen brauche; schließlich tauchte der vermessene Gedanke an eine Heirath auf. Sie wird doch nicht gerade die Tochter des Oberbürgermeisters sein, hoffte er, vielleicht ist sie verwaist, vielleicht hätte sie doch die Güte, mich zu nehmen; das nächste Mal will ich jedenfalls etwas kühner sein.

Und „das nächste Mal“ kam; mit ihm ein Vorleser aus Ungarn, der sich stolz als „Ritter“ ankündigte, eine düstere Erscheinung, die sich mit rollenden Augen und ohne Konzept daran machte, eine übelbeleumdete Persönlichkeit der Geschichte sittlich reinzuwaschen – es wäre nur zu wünschen gewesen, flüsterten sich die Backfische zu, daß er dasselbe Geschäft erst körperlich an sich besorgt hätte.

Wieder zürnte der benachbarte weibliche Schöngeist, der in seiner milden Menschenfreundlichkeit so gern an die Trefflichkeit des Caracalla, oder wer nun gerade das abzuwaschende Subjekt war, glauben wollte. Wieder wie immer zierten Schülergestalten mit übereinandergekreuzten Beinen die Säulenschäfte des Saalhintergrundes, kindliche Gesichter, aus denen das freudige Bewußtsein strahlte, die ganze Weisheit zum halben Preise zu bekommen und noch obendrein gratis im sitzenden Publikum angebetete Schulmädchenköpfe zu entdecken.

Wie immer starrten Armleuchter und Gipsmusen von den Wänden – aber eins war nicht wie sonst. Eine Fremde saß auf dem Platze von Herrn Schmitts Madonna – gerade heute, an dem Abend, wo er trotz seines mangelhaften Muthes den ersten kleinen Schritt zu wagen dachte!

Wer war sie? Wie kam sie auf ihren Platz? Sie mußte doch in Zusammenhang stehen mit ihr! Immer wieder sah er sie an. Einmal trafen sich ihre Blicke – es war ein strenger, unangenehmer Gegenblick, den er abbekam.

Der „Ritter“ – daß es keiner „vom goldenen Vließ“ war, bezweifelte außer Achilles’ Nachbarin niemand – schloß mit einem großen Wortschwall glänzend ab. Hätte der römische Kaiser aus seinem länderfernen Grab die nachträgliche Reinwaschung hören können, sie wäre ihm vermuthlich sehr gleichgültig gewesen; trotzdem hatte das Mundwerk des Ritters allmählich das geschichtlich verbriefte Scheusal zum Engel gemacht. Lautes Beifallklatschen, Verbeugungen des „Ritters“ vom Podium, und die Menge verlief sich.

Draußen war Winternacht und Glatteis. Vorsichtig tastende Gestalten wimmelten aus dem Stadthaus und vertheilten sich in die verschiedenen Richtungen. Gaslaternen, vereinzelte Sterne und ein zuweilen hinter Wolken hervortretender Mond beleuchteten das Nachtbild. Wer Bekannte traf, hakte bei ihnen ein und focht den Kampf mit der Glätte gemeinsam. Einzelne Pilger glitten ängstlich an Wänden und Laternenpfählen hin.

O! dachte Achilles, das wäre nun die beste Gelegenheit, ihr den Arm zu bieten oder wenigstens ihrer Stellvertreterin – denn, wer weiß ... es führen viele Wege nach Rom! Er stand unter dem Thorgang und spähte unter alle Kupuzen, bis er die Gesuchte fand, die rathlos auf den spiegelähnlichen Boden sah. „Mein Fräulein!“ log er entschlossen, „ich habe denselben Weg wie Sie –“

„Woher wissen Sie denn, wo ich wohne?“ fragte eine scharfe Stimme unter dem Schleier hervor.

Er stammelte verlegen etwas Unverständliches und begann dann schnell mit einer Auseinandersetzung über die ernsten Gefahren des Glatteises, so daß die Unbekannte erschrocken den angebotenen Arm ergriff. Und je mehr sie einsah, wie glatt es war, desto fester klammerte sie sich an ihren Begleiter.

„Waren Sie schon im letzten Vortrag?“ fragte er endlich.

„Nein, die Karte gehört mir gar nicht.“

„Wem denn?“ Sein Herz klopfte hörbar.

„Meiner Nicht –“

„Ihre Nichte ist doch nicht krank?“

„Nein. In Berlin.“

Ihn durchzuckte die Vorahnung künftiger Seligkeit – wenn man eine Nichte liebt, ist es immer schon ein Glücksfall, die Tante am Arm zu halten. Dann empfand er dumpfe Angst. Berlin ist so groß, „hat der Tücken soviel und Gefahren!“

Plötzlich glitt die Tante aus; er hielt sie noch rechtzeitig fest. „Wann kommt Ihre Nichte wieder?“ rief er heiser.

„Uebermorgen!“ Sie hörte kaum auf das Gespräch, sie ängstigte sich nur um ihre augenblicklich sehr unsichere Existenz.

„Ich glaube,“ rief sie plötzlich, „Sie stützen sich viel mehr an mir, als ich mich an Ihnen!“ Dabei ließ sie seinen Arm fahren, tappte einem Gitterthor entgegen und wanderte daran hin. Er folgte in drei Schritt Abstand.

Liebenswürdig ist sie nicht, dachte er, aber natürlich – alles kann ja in einer Familie nicht Engel sein; auch Familien müssen von ihren Vorzügen ausruhen.

Ein paar gescheite Leute hatten sich im nächsten Laden Wollsocken gekauft und eilten in diesen mit neuer Sicherheit gleich Schattenbildern vorüber; nun da für sie das Stolpern unwahrscheinlich war, sahen sie spöttisch auf die anderen minder Klugen, zumal auf das wunderliche Paar, das sich langsam und schweigend an den Gartengittern entlang tastete.

„Grundgütiger!“ rief mit einem Mal die Tante; „das war der Herr Rechnungsrath! Was wird der denken – ich mit einem jungen Mann allein auf der Straße!“

Achilles hatte keine Ahnung, was in solchen Fällen Rechnungsräthe zu denken pflegen. Er schwieg.

„Das ist zu peinlich!“ fuhr sie fort. „Aber Gott sei Dank, wir sind gleich am Haus. Herr – ja wie heißen Sie denn, mein Herr?“

„Schmitt –“

„So hören Sie, Herr Schmitt! Sie hätten das nicht thun dürfen, so ohne weiteres eine unbeschützte Dame zu begleiten!“

Achilles raffte sich auf. „Mein Fräulein,“ sagte er muthig, „da ich hoffe, daß uns einst engere Bande verknüpfen, können wir etwaigen Mißdeutungen wohl kühn die Spitze bieten –“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 822. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_822.jpg&oldid=- (Version vom 19.5.2023)