Seite:Die Gartenlaube (1892) 818.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

knüpften sich an diese Glocke.

Sie stammte aus seinem Elternhause. Ihrer vier Geschwister, saßen sie in der dunklen Stube am Ofen zusammen, von den süßen Schauern der Erwartung erfüllt, gruselnd, schweigsam und artig wie kaum jemals, dicht aneinandergeschmiegt, mit kurzen bangen Fragen ihre Aufregung verscheuchend, bis die Klingel nebenan ertönte, die Flügelthüren sich aufthaten und eine blendende Helligkeit ihnen entgegenstrahlte. Tretet ein in das Zauberreich der Kinderpoesie, in dem der fromme Duft brennender Wachslichter, frischer Tannen und der feine Lackgeruch der neuen Spielsachen eure junge Seele umfängt!

Und das ist dieselbe Klingel, die ihn und seine Geschwister einst rief. – Lange hatte sie geschwiegen, dann wurde sie wieder hervorgeholt, als sein Junge groß genug war, um selbständig, aber mit dem zierlichen Fäustchen an die Röcke seiner guten Tante geklammert, in die Stube zu trippeln, zaghaft und schüchtern, mit einem verlegenen Gesicht und vor Erregung gerötheten Backen. An drei Christabenden hat diese Klingel den geliebten kleinen Schatz, sein ganzes Glück, herbeigerufen, wie sie einst ihn gerufen hatte.

Dann fuhr des Schicksals Hand mit einem grausamen vernichtenden Streich in sein Leben. Die Lichter seines Weihnachtsbaumes waren verloschen, vielleicht für immer, er war wieder allein und er verbarg sich mit seiner tiefen Wehmuth vor den andern, vor fremder Freude, vor anderer Glück.

Er hatte sich in einen Lehnstuhl dicht am Schrank niedergelassen, es war dunkel und still im Zimmer, nur im Ofen knisterte es, wenn die verbrannten Kohlen durcheinanderfielen, und an der Zimmerdecke war ein helles schiefes Viereck, der Schein der Straßenlaterne, sichtbar. Er ließ den Kopf etwas auf die Brust sinken und blickte vor sich hin, ins Finstere.

In seinem Schoß lag die alte Klingel, er [um]schloß sie mit seinen Händen, dann lösten sich langsam die [lei]se zuckenden Finger, und er faßte sie an dem wackeligen B[ügel] und hob sie empor, langsam, vorsichtig, damit ihre Stimme nicht erwache. Aber seine Hand zitterte und weckte die wohlbekannten Töne aus unwiederbringlichen, vergangenen Tagen. Er ließ es noch einmal erschallen, das helle, freudige Geklingel – aber es blieb finster rings um ihn, und die Thür öffnete sich so wenig, wie sich Gräber öffnen. –

Dann legte er die Hand auf die Augen und schluchzte.

*  *  *

Das Postenstehen ist an sich schon eine der langweiligsten Beschäftigungen, und nun gar am Weihnachtsabend, noch dazu, wenn man ein blutjunger Scekadett ist, der erst kürzlich das behäbige Vaterhaus verlassen hat. Es ist ein Pech, gerade am Weihnachtsabend zur Wache kommandiert zu werden, aber einen muß es eben treffen. Es war im südlichen Dalmatien, wo mich dieses Schicksal ereilte; die Marine-Infanterie versah den Nachtdienst auf dem Lande, beim Pulvermagazin, beim Kohlendepot und auf dem Fort X; das letztere ist ein sehr wichtiger strategischer Punkt, der Schlüssel zu Oesterreich vom Süden her.

Die Wichtigkeit meiner Aufgabe – zwei Stunden lang um das Fort herumzuwandeln und auf die finstere Adria hinauszublicken, hatte mich mit der Reizlosigkeit dieses Dienstspazierganges nicht aussöhnen können. Wie ging’s jetzt wohl zu Hause her, und ich stand eingewickelt in den ewigfeuchten, steifen Wachtmantel, der mir in allen Richtungen viel zu groß war, das Gewehr im Arm, auf einem weltentlegenen Felsenvorsprung da unten bei den Morlacken und – wartete auf die Ablösung. Das ist hart, besonders wenn man selber noch ein bißchen Kind ist. Ich dachte an eine Lithographie, die ich auf dem Schulweg bei einem Bilderhändler zu sehen gewohnt war; sie stellte eine eingeschneite Schildwache dar, im Hintergrund waren hellerleuchtete Fenster zu sehen, hinter denen der Christbaum brannte. Jetzt kam ich mir selber so vor, nur der Hintergrund fehlte, – aber siehe da, plötzlich klirrte ein Fenster so ungefähr in Mannshöhe, und eine Frauenstimme rief die italienischen Dialektworte: „La senti“ („Hören Sie!“) herab. Nun sind ja in der Dienstvorschrift dem Wachtposten private Unterhaltungen untersagt, aber … das gute Herz der Ruferin sollte nicht verletzt werden – ich hatte die Frau mit ihrer Tochter schon am Nachmittag gesehen, sie war die Witwe des früheren Fortskommandanten und hatte sich nach dessen Ableben nicht entschließen können, den Ort zu verlassen. Und das noch immer hübsche Töchterchen verblühte in dieser Abgeschiedenheit, als wäre das so vollständig in der Ordnung.

„Kommen Sie doch einen Augenblick herauf, Kadett!“

„Ich darf nicht, Signora.“

„Ach was – ein paar Minuten am Christabend – das ist ja grausam so da unten …“

„Ich kann auch gar nicht, müßte ja an der Wachtstube vorüber …“

„Nicht nöthig, kommen Sie hier herauf – Marietta, Du bist stärker, hilf ihm …“

Diese Worte sprach sie ins Zimmer hinein. Ich weiß nicht, warum ich plötzlich anderen Entschlusses wurde, aber ich lehnte das Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett an die Wand, hing den Wachtmantel darüber und erklomm das gastlich geöffnete Fenster, aus dem sich

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1892, Seite 818. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_818.jpg&oldid=- (Version vom 16.5.2023)