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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

respektierten sie ihrerseits des Vaters Arbeitsstube und kamen nicht hierher!

Nein, sie kamen nicht, aber dicht nebenan ward eine Thüre geöffnet, und, dank der dünnen Wand – es war offenbar nur eine eingezogene Tapetenwand – vernahm er deutlich, wie die Gesellschaft sich drüben niederließ.

Nun, das mochte hübsch werden, wenn man ihn entdeckte. Dann zeigte man ihn natürlich mit Hallo als fremdes Wunderthier dem ganzen Hause vor – ihn, der dem Freunde nur einmal wieder in die alten guten Augen hätte sehen und am liebsten mit einem kurzen stummen Händedruck wieder hätte gehen mögen!

Aber wie? War nicht eben dieses Verlangen auch ein Stückchen deutscher Sentimentalität? Gewiß! Und die Strafe folgte auf dem Fuße. Nur daß sie nicht so hart war, wie er gefürchtet. Diese Kinderstimmen – durchaus nicht unharmonisch! dachte er. Just so, wie wenn zwei feine Glöckchen ineinanderspielen, während ein drittes tieferes den Grundton angiebt. Bruder und Schwestern also!

Uebrigens – die Kinder waren nicht allein! Er rückte unwillkürlich mit dem Stuhle von der Wand ab, so nah und unvermittelt schlug plötzlich eine weiche Frauenstimme an sein Ohr. Dabei war etwas in dem Klänge, dem Tonfall, das ihn wie elektrisiert aufhorchen ließ – doch im nächsten Augenblick verspottete er sich selbst. Er hatte eben lange weder deutsche Kinder, noch deutsche junge Damen reden hören, und die letzteren mochten sich hier zu Lande wohl sämmtlich in der Stimme ähneln, schon der Mundart wegen, die auch von den Gebildeten gesprochen wurde.

Freilich, in dieser fast unmerklichcn Weise, wie der Dialekt hier herausklang, hatte er es – damals – nur von Einer gehört. Tempi passati! Eine Handbewegung, wie wenn man ein ungeschicktes Wort von der Tafel fortstreicht, sollte wohl die lästige Erinnerung verscheuchen, die Erinnerung an Eine, die – nun die natürlich heute im eigenen Hause ihren eigenen Sprößlingen bescherte!

„Disttindchen düben bei Mama?“ erklang eben das dünnste Glöckchen, worauf das zweite etwas kräftiger einfiel: „Gistgindchen?“ das dritte aber ließ sich vorwurfsvoll vernehmen: „Chr–istk–ind müßt Ihr sagen. – Tante, ist das Christkind wirklich drüben?“ Es war offenbar der Knabe, der jetzt fragte, und: „Ja! Doch wenn Ihr hier so laut seid, fliegt es weiter,“ antwortete die „Tante“, deren Platz dem des Hörers ängstlich nahe sein mußte.

„Was macht es denn da drüben, Tante? – Tante!“ Diese mochte dem kleinen Fragesteller nicht recht bei der Sache scheinen.

„Was? Nun Ihr wißt doch, daß es all die hübschen Sachen bringt, die Ihr hernach bekommt. Es muß sich nur erst mit Papa und Mama bereden.“

„Worüber?“

„Vermuthlich, wer von Euch das Artigste gewesen ist.“

„Sooo – Wie lang’ das wohl dauert?“

„Weiß ich’s? Was lange währt, wird gut,“ scherzte die Frauenstimme, die merkwürdig weich klang.

„Das halte ich nicht aus,“ versicherte der kleine Mann, halb weinerlich, halb trotzig.

„Wirst’s schon aushalten, wenn ich etwas erzähle. Kleiner Hans, komm’ her!“

„Nein, wenn Du ‚kleiner‘ sagst – –“

Hier mußte der Zuhörer wider Willen lächeln. Der selbstbewußte Namensvetter – wohl sein Pathenkind – fing an, ihn lebhafter zu interessieren. Auch ertappte er sich auf einer Art von Neugier, zu erfahren, welche der beiden Schwestern der Frau Rechtsanwalt – „damals“ waren diese selbst noch Kinder – die „Tante“ nebenan war, Elli oder Nelli. – –

„Also – großer Hans, komm’ her, ich werde Euch erzählen.“

„Aber nicht vom Christkind – erzähl’ ’mal von dem Ritter, weißt Du, der alle seine Feinde totschlug, bis auf den einen, der hernach sein bester Freund wurde – – bitte, Tante, liebes Tantchen!“

„Laß mich, Du Wilder! Du erstickst mich ja mit Deinen Küssen!“

„Du sollst auch ersticken, wenn Du nicht von dem Ritter erzählst.“

„Heut’ ist Weihnachtsabend, da spricht man nicht von Mord und Totschlag.“

„Nun, dann erzähl’ vom – vom Onkel Hans, weißt Du, von dem, der zu den Schwarzen ging, weil – weil –“

„Weil ihm die weißen Leute hier nicht mehr gefielen,“ half die Tante nach.

Der Fremde horchte unwillkürlich höher auf.

„Und kommt er niemals wieder, Tante?“

„Nein, dem gefällt es dort zu gut. Du weißt doch, was Papa uns einmal aus der Zeitung vorgelesen hat, wie gut ihm alles ausgeht, was er unternimmt! Der wird ein mächtiger berühmter Mann und –“

„Heijathet die Pinzessin und wird Tönig,“ verkündete die jüngste Schwester triumphierend.

„K–önig!“ rief Hans. „Wirst Du’s denn niemals merken, wie man die Worte ausspricht? – König – von – von …“ wiederholte er halb fragend.

„Afrika,“ fiel die ältere der Schwestern ein. – –

Einen Augenblick lang blieb drüben alles still. Ob die Tante wohl lächelte, spöttisch natürlich, fragte sich der Fremde, der aus einem unfreiwilligen Zuhörer nun doch ein freiwilliger geworden war.

„Du, zu dem geh’ ich, wenn ich einmal groß bin – ganz groß,“ verbesserte sich der Sprecher sehr rasch.

„Ja, geh’ nur! Jetzt aber laß die Schwestern auch ’mal an das Fenster! Seht Ihr das kleine goldene Wölkchen dort am Himmel? Dorthin ist das Christkind eben geflogen. Warum habt Ihr nicht besser aufgepaßt!“

„Ah!“

Man hörte, wie die kleine Schar sich zusammendrängte, und auch der junge Mann wandte mit einer langsamen, träumerischen Bewegung Kopf und Auge dem Fenster zu. Das Schneien hatte aufgehört. Der Himmel hatte sich gelichtet, aber die kurze Wintersonne war verschwunden, ohne daß er ihren Untergang beachtet hatte. War es das kindliche Geschwätz gewesen, das ihn der Außenwelt entrückt hatte, oder war es nur die weiche Frauenstimme?

Ja, diese Aehnlichkeit der Stimme! – Wie deutlich sie ihm jene einzige Gestalt, jenes liebliche durchgeistigte Gesicht wieder vor die Seele gezaubert hatte! Die seelenvollen dunklen Augen, die so viel versprochen und nichts – gehalten; der Mund, die zartgeformten Mädchenlippen, die alle Seligkeit und Süßigkeit der Liebe ihm verheißen und dann, als es die Entscheidung galt, doch nur kühle förmliche Worte für ihn gefunden hatten, Worte, die sein ganzes Hoffen vernichteten –

Doch nein, sie hatten nichts vernichtet, sie hatten ihn zu dem gemacht, was er seitdem geworden war: zum Manne.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 807. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_807.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2023)