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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

„Verzeih’!“ sagte sie trotzig und wollte an ihm vorüber.

„Warte einen Augenblick!“ sagte er ruhig, „ich suchte Dich drunten – es ist eine Depesche vom Frieder da. Man hat ihn auf seinen Wunsch an Bord eines unserer Kriegsschiffe gebracht, das nächstdem nach Deutschland zurückgeht. Das ist der lakonische Inhalt des Telegramms, das ich durch Vermittlung des Berliner Auswärtigen Amtes erhielt. Ueber sein Befinden ist nichts gesagt, aber da man den Transport gewagt hat, muß Hoffnung auf Genesung sein. – Er kommt also!“

Julia schoß eine Fluth von Gedanken durch den Kopf. „Hierher?“ stammelte sie.

„Wohin denn sonst? Er hat ja bei uns sein Heim!“

„Er soll aber nicht kommen!“ sagte sie angstvoll.

„Wie?“ fragte der Doktor, sich aus der gebückten Stellung aufrichtend. Er hatte das schlummernde Kind betrachtet.

„Nichts!“ antwortete sie und ging hinaus.

Julia fand in dieser Nacht keinen Schlaf, sie sah immer wieder zwei jugendliche Gestalten, wie sie einander gegenüber im Nachen saßen und sich anschauten mit Liebesblicken – Frieder und Therese. Konnten sie, die sich so angesehen hatten, jemals einander vergessen?

Mit schmerzendem Kopfe stand sie wieder auf. „Er darf nicht kommen, er darf nicht!“ sagte sie.

Und dann kam der alte Trotz. „Was geht’s mich an!“


„Und kurz und gut, liebe Schwägerin, der verwundete Weltfahrer wird bei mir wohnen,“ sagte Herr Krautner, der längst wieder mit seiner Tochter aus Ostende heimgekehrt war, und dabei stieß er nachdrücklich mit dem Stock auf die Diele. „Hier in diesem Hause ist einfach kein Platz, und bei mir sind zwölf Zimmer unbewohnt. Sorgen Sie sich nicht, es wird ihm bei mir nichts abgehen, und sehen können Sie den Herrn Pflegesohn, so oft Sie wollen; die Thür in der Gartenmauer, die ich für meine Kinder hab’ machen lassen, steht auch ihm offen. Also topp! Der Herr Premierlieutenant Adami nimmt sein Quartier bei mir!“

Tante Riekchen versuchte noch einige Einwendungen; es gehe ganz gut hier – er komme doch als Sohn zu seiner Mutter, sagte sie kläglich. Und die Julia könnte ins Dachstübchen hinauf – „ich würde ihr ein kleines Oefchen setzen lassen –“

„Vielleicht könnten Sie für das Mädchen auch den Kaninchenstall einrichten lassen,“ rief der alte Herr böse. „Nichts da, der Lieutenant kommt zu mir – gelt, Töchterchen,“ wandte er sich an das junge Mädchen, „so ist’s am besten?“

„Ja!“ sagte Julia und hob die Augen von ihrer Stickerei. „Ja! Jedenfalls gehe ich unter keinen Umständen in die kalte Dachstube.“

Tante Riekchen sah verwundert auf. Noch nie hatte das Mädchen sich gegen eine Anordnung, die ihre eigene Person betraf, aufgelehnt. Diese Unbescheidenheit rumorte der alten Dame in allen Nerven. „Nun, früher konnte man Dich nie aus dieser Stube heraus bekommen,“ bemerkte sie, „und jetzt willst Du nicht hinein?“

„Nein, Tante!“

„Warum nicht?“

Sie zuckte die Schultern. „Weil mich friert da oben,“ erwiderte sie kurz.

„Na, es ist abgemacht, der Lieutenant wohnt bei mir,“ begann nochmals der alte Herr – dann eine Verbeugung und er ging.

Die Znrückbleibenden sprachen nicht miteinander. Fräulein Riekchen weinte leise; Julia bemerkte es nicht. Sie sah nur dann und wann einmal von ihrer Arbeit auf in das Flockengestöber des Dezemberschnees.

„Du wirst ihn doch vom Bahnhof abholen,“ begann endlich Tante Riekchen, „und ihm schonend mittheilen, daß im Hause seiner Pflegemutter kein Platz für ihn ist?“

„Ja!“

„Du hast Dir so einen barschen Ton angewöhnt, Julia; man hat Angst, Dich um etwas zu bitten,“ klagte das alte Fräulein.

„O,“ antwortete das Mädchen, „war ich früher anders?“

„Alle im Haue klagen,“ fuhr Tante Riekchen fort. „Schrecklich ungefällig ist es doch von Dir gewesen, daß Du bei der Tanzgesellschaft oben nicht ein wenig helfen wolltest!“

„Ich verstehe ja dergleichen nicht – und dann . . . Therese kann mich nicht um sich leiden.“

In diesem Augenblick klopfte es, und Therese trat ein. Sie sei beim Weihnachtsmann gewesen, sagte sie lachend, und habe etwas mitgebracht. Und unter allerhand Scherzreden wickelte sie zwei kleine Pakete aus und reichte jeder der beiden Damen eins. Es war noch nie geschehen, daß Therese eine Aufmerksamkeit für Julia gehabt hatte. Diese blickte zuerst überrascht auf die elegante Frau in dem kostbaren Sammetmantel, auf dessen braunen Falten noch die Schneeflocken lagen.

„Für mich?“ fragte sie, und in den Mundwinkeln erschien flüchtig das gewohnte Zucken.

„Ja gewiß!“ lautete die Bestätigung; und dann eilte Therese schon wieder hinaus.

„Nun, da bist Du ’mal wieder auf der Stelle überführt von der Unrichtigkeit Deiner Behauptung, daß Thereschen Dich nicht leiden kann,“ sagte Fräulein Riekchen.

„Dadurch?“ Julia nahm sich nicht einmal die Mühe, das Päckchen zu öffnen. Sie strickte weiter, während die Kranke mit den steifen Fingern ihr Geschenk mühsam aus der knisternden Hülle wickelte und sich über das elegante Büchschell freute, das herausfiel und in dem irgend eine Näscherei sein mochte. Das Geschenk Julias lag am Abend noch ebenso da, als schon das Mädchen hinausgewandert war, um den heimkehrenden Bruder am Bahnhof zu empfangen.

„Sie wird immer unleidlicher,“ sagte die Räthin, als sie die Geschichte des unbeachteten Geschenkes hörte. „Wenn Du sie nicht so nöthig brauchtest, Riekchen, Du hättest sie längst gehen lassen müssen – aber das ist’s ja eben!“

„Daß sie so lieblos wurde, ist mein größter Kummer,“ gab Fräulein Riekchen zu, und dabei zitterte ihr altes Herz vor Freude, den geliebten Buben bald ans Herz schließen zu dürfen.

„Eine Mutter kann ihr eigenes Kind nicht ungeduldiger erwarten, murmelte die Räthin und ging in ihre Stube zurück, um nicht die „Komödie“ des Wiedersehens mit zu erleben.

Eine halbe Stunde später saß Tante Riekchen zwischen ihren beiden Pflegekindern beim Abendessen. Die alte Dame konnte vor Freude nichts genießen, sie betrachtete nur immer und immer wieder den schönen stattlichen Mann, dessen gebräuntem Antlitz man kaum mehr eine Spur des Leidens ansah, obgleich er noch immer den Arm in der Binde trug.

Er gab freundlich und geduldig Antwort auf all die verwirrten Fragen der gealterten Frau, er erzählte zum vierten Male in dieser Stunde die Geschichte seiner Verwundung, er lobte die Karpfen und den Rheinwein und sagte der Schwester, er finde, sie sei schön geworden, groß und echt römisch. Er fand es „all right“, bei dem „alten Knopf“ drüben zu wohnen, nachdem er sich besonnen, daß ja droben – richtig, droben – Fritz hause mit seiner jungen Frau, und hörte mit höflicher Theilnahme die begeisterte Schilderung über das „Bubi“ an, welche die Tante in ihrer Herzensfreude vortrug.

„Und überhaupt, Frieder,“ schloß sie, „da droben wohnen glückliche Leute; so wie die zwei zusammenpassen, paßt selten ein Paar, und heute, wo sie fast drei Jahre verheirathet sind, schauen sie einander noch genau so verliebt an wie am Verlobungstag.“

Er nahm sich noch einmal Fisch. „Das frent mich herzlich,“ meinte er trocken. Julia fand nicht den Muth, ihn dabei anzublicken.

„Morgen wirst wohl droben Deine Aufwartung machen,“ fuhr Tante Riekchen fort, „und auch bei Tante Minna drüben? Da kannst Du es selbst sehen, wie Junges erblüht und Altes abstirbt. Ja, mein Bub’, viel später hättest Du nicht kommen dürfen, wolltest Du mich überhaupt noch finden.“ Und der alten Dame rannen die Thränen über die Wangen, die sie nicht zu trocknen vermochte mit den armen hilflosen Händen.

„Du mußt zu Bett gehen,“ sagte endlich Julia leise.

„Ach, nicht so rasch, ich kann doch nicht schlafen,“ bat die Tante. „Hol’ Aepfel und Nüsse, Julia, es ist dann wieder wie damals, als Ihr Kinder waret.“

Gehorsam trug Julia das Verlangte herzu, und Frieder begann wieder zu plaudern. Dann verstummte er jäh, und eine dunkle Röthe überzog sein Gesicht. Droben wurde Klavier gespielt.

„Es ist Thereschen,“ sagte die alte Dame stolz, „es gilt dem Bub’.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 780. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_780.jpg&oldid=- (Version vom 16.8.2022)