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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

der Welt schaffen könnte!“ Und sie wandte sich um und schritt zur Thür hinaus.

„Wäre sie nur erst fort!“ murmelte Therese finster, mit zornigen Augen der Scheidenden nachblickend. Und dann zog ein schelmisches Lächeln über ihr schönes Antlitz – der Doktor stand auf der Schwelle.

„Scherben? Schon heute?“ rief er fröhlich.

Sie lachte. „Ich zerstieß ungeschickterweise eine Scheibe. Aber bringt das nicht Glück?“

„Hast Du Dich verletzt?“ fragte er zärtlich und zog sie an sich.

Sie lächelte zu ihm empor. „Nein, nein! – Ist’s nicht traut hier, ist’s nicht ganz einzig nett?“

Er nickte, aber sah sich nicht um, er blickte nur in die geliebten Züge. „Ich kann es noch immer kaum glauben, daß Du mein werden willst,“ flüsterte er. „Aber komm’ – hier oben ist das Paradies, das mir noch verboten ist; komm’, daß wir die Götter nicht erzürnen.“


Die Mainacht sank hernieder. Zum letzten Male schaute Mamsell Unnütz in den blühenden Garten hinaus, in dem sie ihre bescheidenen Kinderspiele gespielt hatte; morgen schon würde sie in Amt und Pflicht sein, vielleicht an einem Sterbebett stehen müssen. Sie fürchtete sich nicht vor der Zukunft; nur Arbeit, viel Arbeit wollte sie, nur kein Müßiggehen, das die Erinnerung weckt und Seelenwunden nicht heilen läßt.

Am liebsten wäre sie gar nicht schlafen gegangen, sondern hätte in der frühesten Morgenfrühe das erste Schiff benutzt und wäre ohne Abschied davongefahren. Wie ihr graute vor diesem Abschied, der gleichbedeutend war mit dem Verlust von Jugend und Glück!

Ganz leise schloß sie das Fenster, damit die Tante nebenan nicht gestört werde, dieses wunderliche alte Fräulein, das nie einen guten Blick, nie eine Zärtlichkeit für sie gehabt und der sie dennoch zu Dank verpflichtet war, denn sie hatte das schutzlose Kind unter ihrem Dache behalten, hatte es genährt, gekleidet und zur Schule gesandt.

Rief sie nicht eben? Mamsell Unnütz horchte erschreckt auf. Nein, das war kein Ruf, das war ein dumpfes Stöhnen. Im nächsten Augenblick schon stand das junge Mädchen am Lager der Tante, und das raschentzündete Licht zeigte ihr das schmerzverzerrte Gesicht der Bewußtlosen.

Sie flog durch den Flur, durcheilte Wartezimmer und Wohnstube und schlug mit der kleinen Faust gegen die Thür des Doktors. „Fritz, Fritz, die Tante stirbt!“

Dann weckte sie die Räthin und war in der nächsten Minute wieder bei der Leidenden und stützte die qualvoll stöhnende, mühsam lallende Kranke mit ihren jungen kräftigen Armen.

„Ein schwerer Schlaganfall, Unnütz,“ sagte der Arzt traurig, nachdem er die Aermste gesehen und ihr Hilfe gewährt, soviel er vermochte. Sie standen miteinander in dem dunklen Wohnzimmer vor der Krankenstube, und die Kühle der Mainacht drang zu ihnen herein. Die Räthin war am Bette der Schwester geblieben.

„Du kannst Dich möglicherweise auf eine lange schwere Zeit der Krankenpflege gefaßt machen, arme kleine Unnütz,“ fuhr der Doktor fort.

Sie zuckte empor; sie wollte rufen. „Es ist unmöglich, ich darf nicht hier bleiben!“ aber rasch senkte sie wieder das Haupt, ja freilich – sie war die Nächste dazu – sie – wer sonst sollte die einsame verbitterte Frau dort pflegen? Und dennoch – – „Seid barmherzig! Ach, seid barmherzig!“ murmelte sie.

Er verstand es nicht. „Vielleicht ist sie – bist Du bald erlöst, vielleicht macht ein zweiter Schlaganfall ihrem armen Leben ein Ende, vielleicht aber auch bleibt sie dem Dasein erhalten, eine hilflose gelähmte Frau, die Deiner nicht entrathen kann.“

„Ich weiß! Ich weiß!“ stieß sie hervor, „bitte, rede nicht weiter, ich bleibe ja.“

Er drückte ihr die Hand und ging wieder zu der Kranken. Die Räthin kam an seiner statt heraus, weinend und lamentierend. „Und das hat gerade noch gefehlt – sie stirbt womöglich am Polterabend, und wenn sie leben bleibt, dann ist sie doch immer so krank, daß Fritz anstandshalber seine Hochzeitsreise aufgeben muß! Nein, das kann doch auch nur uns passieren! Du telegraphiere nur gleich ab nach Köln, hast hier genug zu thun, ich kann mit meinen müden Gliedern keine Kranke mehr heben und versorgen. Ach Gott, und so etwas muß gerade jetzt kommen!“

Julia beachtete das Jammern der erregten Frau nicht, sie ging an ihre Pflicht, und als der Morgen dämmerte, da glaubte sie in den starren Augen der Tante ein erwachendes Verständniß zu bemerken, und sie beantwortete deren ängstliches undeutliches Lallen mit den lauten Worten, die von einem leisen Streicheln der Wangen begleitet waren. „Sei ruhig, Tantchen, ich bleibe bei Dir – kennst Du mich? Julia! – Sei ganz ruhig!“

Und da flog es wie ein Schimmer der Erlösung über die verzerrten Züge.

Am nächsten Tage trat keine Aenderung im Befinden der Kranken ein, am Polterabend aber war sie bereits imstande, die gelähmten Arme ein wenig zu bewegen.

Therese wollte sich diesen Tag nicht verkümmern lassen, und wenngleich der Fritz von Musik und Ball zuerst nichts wissen mochte, schmeichelte sie ihm doch die Zustimmung durch ihre süßen Bitten ab. „Gelt, Fritz, noch einmal tanzen wir zusammen als lustige junge Springinsfeld, nachher ist’s ja doch mit Spiel und Tanz vorbei, sagt der Vater. Und von morgen ab gehorche ich Dir, aber heute, Fritz, heute – –“

Er kam noch einmal in die Wohnung der alten Tante, ehe er in das Haus der Braut zur Vorfeier seines Hochzeitstages ging. Draußen versank die Sonne hinter einer Wolkenschicht, und in dem blassen Dämmerlicht saß Julia still am Fenster in dem altmodischen Lehnstuhl. Sie hatte den Kopf mit geschlossenen Augen gegen die Polster gelegt und gewahrte den Mann erst, als er dicht vor ihr stand. Ihre erschreckten Blicke flogen über seine festliche Kleidung – er war im Frack und hielt den Cylinder in der Hand – und ihre Lippen preßten sich herb aufeinander.

„Ich wollte Dich nur bitten, Julia,“ sagte er, „die Fenster im Krankenzimmer zu schließen, damit die Musik Tante nicht aufregt. Ich hätte eine stille Feier lieber gehabt, aber ich mochte Therese ihren letzten Mädchentag nicht verderben; sie hat ohnehin schon die Hochzeitsreise bereitwillig aufgegeben.“

„Und warum willst Du nicht reisen?“ fragte sie. „Es geht ja sehr gut. Ich bin hier, und der Onkel Doktor wäre gekommen, wenn sich etwas verschlimmert hätte.“

Er sah sie forschend an; sie hatte den alten wehen Zug um den Mund.

Da erglühte sie wie Purpur. „Ach, entschuldige,“ stammelte sie, „es thut mir ja bloß leid, daß Ihr um der Tante willen Eure Reise aufgeben wollt. Im übrigen – was geht es mich an!“

Sie wendete sich ab, beschämt und zornig über sich selbst – er mußte es ja errathen haben, wie schwer es ihr wurde, sein junges Glück hier im Hause zu wissen. „Geh’ ruhig,“ fügte sie dann hinzu, „ich besorge hier alles ganz pünktlich.“ Und als er fort war, da schloß sie die Fenster der Krankenstube, aber die des Vorzimmers sperrte sie weit auf, und dort verharrte sie in seltsamer Qual die Nacht hindurch und horchte auf die Tanzweisen, die so deutlich herüberklangen, auf das Lachen und Hochrufen und so saß sie noch, als in dämmernder Morgenfrühe Mutter und Sohn heimkehrten.

„Abhärten“ nannte sie das mit bitterem Lächeln.

Sie ging auch am anderen Tage nicht aus dem Krankenzimmer, als das eben getraute Paar pietätvoll an das Bett der wieder zum Bewußtsein Zurückgekehrten trat. Sie stand am Fußende des Lagers und schaute mit weit geöffneten Augen auf die in weißen Atlas und Spitzen gehüllte Braut, die in ihrer leichten Blässe und dem Goldhaar, das unter dem weißen Dufte des Schleiers hervorschimmerte, liebreizender aussah als je. Und die schöne Frau beugte sich über die Kranke und küßte die kraftlose Hand. Dann schickten sich die Neuvermählten zum Gehen an. Der Doktor blickte nicht empor. Er schien das bleiche, stolz aufgerichtete Mädchen zu Füßen des Bettes gar nicht bemerkt zu haben. Stumm legte er die Hand Theresens in seinen Arm, und auch diese blickte nicht seitwärts.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 775. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_775.jpg&oldid=- (Version vom 16.8.2022)