Seite:Die Gartenlaube (1892) 759.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Weihnachtsschmaus zu feiern, denn „Jedem das Seine!“ pflegte sie zu sagen. „Wo viel Verdienst, da ist billig viel Ehr’!“

Bald strotzte denn auch ihr Marktkorb von den eingekauften Herrlichkeiten und ihre Miene drückte völlige Befriedigung aus, während sie durch die langen Reihen der Feilhaltenden heimwärts wanderte, mit Ernst erwägend, welcher Fleischsorte sie für den Festbraten den Vorzug geben solle.

Da rief zwischen den Geflügelständen ein Marktweib sie an: ,Nicht eine schöne Gans gefällig, Madame Meermann, eine schöne Weihnachtsgans? Habe was Extrafeines. Ganz wie für Sie ausgesucht.“

„Wird was Rechtes sein!“ brummte Frau Meermann, trat aber doch näher, denn sie war Kennerin und sagte einer Gans jede Tugend und jeden Fehler auf den Kopf zu, sobald sie nur einen Schimmer von den Füßen oder vom Schnabel zu Gesicht bekam.

Die Händlerin erschöpfte sich in Betheuerungen. Wenn’s nichts Rechtes wäre, würde sie die Madame Meermann gewiß nicht dazu rufen! Das wisse der ganze Markt, daß sie eigen sei wie keine zweite. Aber wenn man gute Ware habe, mache es einem just Freude, sie an solche zu verkaufen, die auch ’was davon verständen.

Frau Meermann blieb ungerührt. „Recht klein für uns. Was wollen Sie denn dafür haben?“ Dabei wendete sie die Gans mit einer unnachahmlichen Gebärde der Verachtung nach allen Seiten, denn sie sah, daß sie wirklich gut war, und was sie kaufen wollte, lobte sie nie.

Die Händlerin fand das in der Ordnung und schlug ein hübsches Stück am Preise vor, um der anderen die Freude zu lassen, herunterzufeilschen. Nachdem sich beide dann eine Weile in Ausrufungen und Versicherungen überboten hatten, kam der Handel zu gegenseitiger Zufriedenheit zustande. Nur wußte Frau Meermann ihren Kauf nicht fortzuschaffen, da sie schon schwer beladen war. Während sie über diese Schwierigkeit mit der Hökerin rathschlagte, trat ein altes zitteriges Mütterchen zu ihr heran mit einem mageren Marktkörblein, in dem ein Stückchen Wurst und eine Rübe einander traurige Gesellschaft leisteten.

„Wenn Sie mir die Gans zu tragen geben wollen, liebe Frau, ich thu’s billiger als ein Dienstmann.“ Es war Anton Rövers Mutter.

Frau Meermann besah die Frau von oben bis unten. „Zwei Groschen will ich Ihnen geben, aber nicht einen Pfennig mehr.“

„Ist recht,“ sagte das Mütterchen und nahm die Gans.

Weil sie aber doch schon einmal bezahlen mußte, hing Frau Meermantt ihr auch den Marktkorb an den Arm und gab ihr das Netz in die Hand. „So wird’s wohl gehen.“

„Ist recht,“ wiederholte Frau Röver geduldig, „ich hab’ schon schwerer getragen.“ Und so wanderten sie nebeneinander hin, die eine groß und stattlich, hochaufgerichtet im Bewußtsein ihres Glücks, die andere gebeugt vom Alter, gebeugt vom Leid, keuchend unter der schweren Last, die sie trug.

„’s ist meinem Sohne zu Ehren daß die Gans da gebraten wird,“ sagte Frau Meermann, mittheilsam in ihrer Freude. „Er ist Kaufmann, mein Julius, bei Wilson und Kompagnie auf dem Markt, wenn Sie das Geschäft kennen. Von Neujahr ab will sein Prinzipal ihm dreitausend Mark Gehalt zahlen und einen Gewinnantheil bekommt er obenein und ist doch erst sechsundzwanzig Jahre alt! Ich hab’ eine rechte Freude an meinem Sohn das ist wahr, drum muß ich auch drauf aus sein, ihm Freude zu machen.“

Frau Röver nickte und seufzte. „Ja, wenn man kann.“

„Sie haben wohl keine Kinder?“

„Doch – einen lieben guten Sohn.“

„Er sorgt aber nicht für Sie, Ihr Sohn – wie?“

„Er hat kein Glück. Was kann man dabei thun!“

„Meine liebe Frau,“ entgegnete Frau Meermann streng, „dabei kann man sehr viel thun. Nehmen Sie mir’s nicht übel, aber Sie begehen ein Unrecht, wenn Sie Ihren Sohn in solcher Ansicht bestärken. Ich hab’ all mein Lebtag gefunden, daß ‚kein Glück haben‘ meist nur eine Beschönigung ist für Schlaffheit, Untauglichkeit oder bösen Willen. Jeder ist seines Glückes Schmied, sagt das Sprichwort, und wie man’s treibt, so geht’s.“

„Ich wollt’, es wär’, wie Sie sagen,“ antwortete Frau Röver gelassen. „Uns könnt’s gewiß recht sein, denn wenn jedem würde, was ihm gehört, dann müßt’ für meinen Anton noch einmal ein Extraglück gebacken werden. Hab’ nur allweil noch nichts davon verspüren können.“

Inzwischen waren die beiden am Hause der Frau Meermann angekommen. Die Achseln zuckend über die mütterliche Verblendung der Alten, zahlte sie die bedungenen zwei Groschen und schleppte ihre Schätze die Treppe hinauf. Oben stand Grete.

„Sind Rövers denn so heruntergekommen, daß die Frau jetzt Packträgerdienste thut?“ fragte sie.

„War das dem Röver seine Mutter? Schau einmal! Da hab’ ich ja, ohne es zu wissen, den Nagel auf den Kopf getroffen. Na, die wird sich hoffentlich meine Worte hinter die Ohren schreiben!“

Zur selben Zeit wanderte Röver, neue Arbeit unterm Arm, von dem Rechtsanwalt heim, der ihn beschäftigte; er wählte die menschenleersten Gassen. Sein Rock war abgeschabt, sein Hut von Wind und Regen entfärbt. Starr sah er im Gehen vor sich nieder – die Gesichter der Begegnenden waren ihm zuwider, da er in jedem Mißachtung zu lesen glaubte, in seiner Verbitterung dünkte ihm eine Tarnkappe der wünschenswertheste Besitz. Und hinter ihm watschelte Waldmann, den vormals keck in die Luft gekringelten Schwanz wehmüthig eingezogen, betrübt über die Trauer seines Herrn und die täglich knapper werdenden Mahlzeiten.

Vom anderen Ende der Straße her, dem ehemaligen Freunde gerade entgegen, kam Julius Meermann, Kopf und Hut im Nacken mit dem Spazierstöckchen fuchtelnd, eine Blume im Knopfloch; und auch er war zerstreut, so daß die beiden plötzlich aufeinanderprallten und zum ersten Male seit ihrer Begegnung im Gerichtssaal sich wieder Aug’ in Auge gegenüberstanden. In tödlicher Verlegenheit starrte Julius den anderen an – er suchte vergebens nach Worten. Endlich faßte er sich.

„Guten Morgen, Röver. Freue mich außerordentlich, daß ich endlich einmal wieder das Vergnügen habe, Sie zu sehen.“

Röver nahm die Hand nicht. „Ich wohne noch in derselben Wohnung wie früher,“ sagte er finster.

„Freilich, freilich! Ich hätte Sie aufsuchen sollen,“ gab Julius erröthend zu. „Aber die vielen Geschäfte! Auf Ehre, ich habe nicht aufgehört, den lebhaftesten Antheil an Ihrem Schicksal zu nehmen. Wie ist’s Ihnen seither ergangen?“

„Schlecht.“

„Schlecht? Wirklich? Das thut mir leid. Wenn ich Ihnen vielleicht mit irgend etwas aushelfen kann –“ und Julius griff eilig in die Tasche.

Aber Röver legte seine Hand schwer wie Eisen auf Meermanns Arm und sah ihm mit flammendem Blick ins Gesicht. Der Verdacht, der in den langen öden Stunden seiner Untersuchungshaft allmählich in ihm aufgedämmert war, der seitdem mit unabweisbarer Gewalt immer wieder sich ihm aufgedrängt hatte, brach plötzlich mit elementarer Macht hervor.

„Behalten Sie Ihr Geld!“ rief er wild. „Ich will Ihr Geld nicht! – Meinen ehrlichen Namen – geben Sie mir meinen ehrlichen Namen wieder!“

„Ich –“ das Wort erstarb Julius auf den Lippen, erbleichend fuhr er zurück. Wäre Röver nicht davongestürmt wie ein Rasender, er würde im verstörten Gesicht seines Gegners die Bestätigung all seiner Vermuthungen haben lesen können. Aber er sah nicht hinter sich.

Als er die Straße hinuntergerannt war und eben langsamer in eine belebtere einbog, legte sich eine Hand auf seinen Arm.

„Herr Röver, auf ein Wort! Wollen Sie ein Glas mit mir trinken?“

Röver blickte auf und fuhr zusammen. Der Sprecher war der Kommissar Lenz, jener Geheimpolizist, der an dem verhängnißvollen Tage seine Verhaftung geleitet hatte. „Was wollen Sie von mir?“ fragte er unsicher.

„Ich habe mit Ihnen zu reden.“

„So muß ich wohl hören,“ erwiderte Anton resigniert. Kein Zweifel, dies Zusammentreffen bedeutete ein neues Unglück – aber er war schon zu gebrochen, um noch Furcht zu empfinden oder an Auflehnung zu denken.

„Wenn’s Ihnen beliebt,“ sagte der Polizeibeamte und deutete auf eine Gastwirthschaft in der Nähe. „Ich habe noch kein Frühstück eingenommen, vielleicht sind Sie in gleichem Falle, und wenn’s Ihnen nichts verschlägt, könnten wir das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.“

„Ich pflege um diese Zeit nicht zu frühstücken, und meine Zeit ist gemessen.“

Der Kommissar schob den Zögernden ohne Umstände über die Schwelle. „Machen Sie keine Schwierigkeiten und kommen Sie mit! Sie werden finden, daß mein Vorschlag die Zeit aufwiegt, die Sie dabei zusetzen. – Kellner! Zwei Beefsteaks

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 759. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_759.jpg&oldid=- (Version vom 25.4.2023)