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verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Eben schritt er, begleitet von dem Geheimpolizisten, durch den Laden, mitten durch das scheu und unwillig vor ihm zurückweichende Personal – das Zimmer des Chefs hatte keinen anderen Ausgang. Er schien keinen von seinen einstigen Kameraden zu sehen. Gerade aus ins Leere starrten seine Augen unter den schwarzen Brauen hervor, die so fest zusammengezogen waren, daß sie sich an der Nasenwurzel berührten. – –

Als Grete später als gewöhnlich zum Mittagessen nach Hause ging, sah sie wenige Schritte von der Ladenthür entfernt Waldmann stehen. Die braunen Augen des Teckels spähten zwischen den Lederriemen des Maulkorbs hervor erwartungsvoll nach der Thür des Geschäftes, aus der sonst um diese Zeit sein Herr zu treten pflegte, und jedesmal, wenn eine ihm fremde Gestalt auf der Schwelle erschien, stieß er ein leises klägliches Winseln aus. Aber er gab seinen Posten nicht auf. Grete war schon die ganze Straße hinunter gegangen, als sie, sich umwendend, den Hund noch immer auf demselben Flecke gewahrte, gestoßen und getreten von den Füßen der um diese Stunde eilig und zahlreich einherhastenden Menschen, von einer seiner krummen Vorderpfoten auf die andere trippelnd, den schlanken klugen Kopf in äußerster Spannung nach der Ladenthür gerichtet. So wartete wohl auch dort in der Pfahlstraße eine alte Frau. Gretchens Herz zog sich zusammen bei diesem Gedanken, und in ihre Augen stieg ein feuchter Schimmer, doch im nächsten Augenblick wallte der Zorn nur noch heftiger in ihr auf gegen den Menschen, der Liebe so übel belohnte.

„Saubere Freunde hast Du, Julius!“ rief sie, in die Stube tretend, wo Mutter und Bruder schon bei der Suppe saßen, und warf Hut und Mantel auf die Kommode. „Wißt Ihr das Neueste? Röver ist heute morgen verhaftet worden, er hat dreitausend Mark unterschlagen!“

Die Hand des jungen Mannes, die eben den Löffel zum Munde führen wollte, sank schlaff herab. Das hatte er nicht beabsichtigt!

„Trau, schau, wem!“ sagte die Mutter kopfschüttelnd. „Wer hätte dem jungen Menschen solche Schlechtigkeit zugetraut! Machte einen so ehrbaren soliden Eindruck! Aber freilich, Art läßt nicht von Art. Es ist die Sünde der Eltern, die sich in den Kindern forterbt von Glied zu Glied.“

„Wie kaun man behaupten, daß gerade er die dreitausend Mark genommen hat!“ brauste Julius ungestüm und unvorsichtig auf. „Die Scheine können ebenso gut auf der Post gegen die Zeitung vertauscht worden sein.“

„Ja, wenn sein Name nicht darauf stände!“

„Sein Name?“

„Und seine Adresse. Es ist ein Blatt einer Berliner Börsenzeitnng, die er sich hält. Uebrigens, woher weißt Du denn schon die Geschichte mit der Zeitung?“

Julius fuhr zusammen und wurde dunkelroth. „Nun, man kommt doch unter die Leute! Solche Sachen sprechen sich rasch herum. Ich – ich wollte nur nicht davon anfangen, weil ich nicht denken kann, daß Röver schuldig ist.“

„So? Das wird ihm lieb sein, denn auf Dein Zeugniß beruft er sich gerade.“

„Auf mein Zeugniß?“

„Du seiest zugegen gewesen, als er die Papiere in den Briefumschlag schob und diesen siegelte.“

Meermann faßte sich allmählich. „Mein Gott, ja! Ich holte Röver gestern abend ab; er ordnete noch allerlei Geschäftliches und schloß auch einige Briefe, wie ich glaube. Ich habe nicht genau achtgegeben; ich konnte mir doch nicht träumen lassen, daß ich demnächst vor Gericht darüber würde zeugen müssen.“

Julius Meermann war zu Muthe wie einem Menschen, der gehofft hat, eine sumpfige Stelle ohne sonderliche Beschwerde durchwaten zu können, und der nun plötzlich den Boden unter seinen Füßen schwinden fühlt. Jetzt hieß es: durch – oder zu Grunde gehen!

In diesem Sinne zeugte er vor Gericht. Er wußte nichts, er konnte nichts aussagen. Er habe Anton Röver allezeit für einen ehrlichen Mann gehalten, es werde ihm auch jetzt schwer, an seiner Rechtschaffenheit zu zweifeln. Wenn es schon ausgeschlossen sein solle, daß die Unterschlagung auf der Post selbst verübt worden sei, so halte er eher noch den Laufburschen für fähig zu einer solchen That. Der sei ja im Zimmer des Herrn Franz zurückgeblieben, als sie beide miteinander sich entfernt hätten, und jedenfalls erkläre sich die ganze Sache am besten durch die Annahme, daß der Mann das Zeitungsblatt in den Umschlag gesteckt habe, um den Verdacht auf Röver abzulenken. Die Verletzung der Siegel habe er dann auf irgendeine Weise zu verbergen gewußt, vielleicht durch Benutzung des Geschäftssiegels selbst, dessen Aufbewahrungsort ihm ja bekannt gewesen sein könne.

Die Zuhörerschaft auf den Galerien brach bei dieser Rede in ein wohlgefälliges Gemurmel aus – das war schön und klug gesprochen zur Vertheidigung des Freundes. Aber der Laufbursche drunten auf der Zeugenbank schaute mit weit geöffneten Augen den jungen Meermann an. Im Anfang war auch gegen ihn ein Verdacht aufgetaucht, allein die kräftige Fürsprache seines Chefs, der Eindruck, den er selbst bei den verschiedenen Verhören auf den Richter machte, hatten ihn vor einer eigentlichen Anklage bewahrt – und nun sollte er auf einmal so schlimm, so ausgesucht schlau und bösartig gehandelt haben!

Da kam ihm Hilfe von einer Seite, von der er sie am wenigsten erwarten konnte – von dem Angeklagten selber. Dieser räumte ein, daß die Unterschlagung am Aufgabeort bewerkstelligt sein müsse, denn das Exemplar der Börsenzeitung gehöre ihm, er habe es an dem verhängnißvollen achten August mit ins Geschäft genommen. Aber daß der Laufbursche der Thäter sei, könne er nun und nimmer glauben. Einer solchen Durchtriebenheit, wie sie ihm von dem Zeugen Meermann zugeschrieben werde, halte er ihn nicht für fähig, um so weniger, als sich der ganze Vorgang in wenigen Minuten hätte abspielen müssen, also eine große Entschlossenheit und Sicherheit in der Ausführung voraussetzen würde. Denn, wie erwiesen sei, habe der Mann die Werthsendung schon etwa zehn Minuten nach Empfang des Auftrages auf der Post abgeliefert. Noch bestimmter freilich müsse er den schimpflichen Verdacht von sich abweisen. Selbst wenn man ihm wirklich die Schurkerei zutrauen wolle, die Zeitung statt der Werthpapiere in den Umschlag gebracht zu haben – wie man ihm die haarsträubende Dummheit zumuthen könne, ein mit seinem Namen gezeichnetes Blatt unterzuschieben, gleichsam seine Visitenkarte beizulegen bei der Ausübung einer verbrecherischen Handlung!

Diese Vertheidigung machte Eindruck auf die Richter. Das uneigennützige Eintreten für den Laufburschen wäre kaum denkbar gewesen, wenn Röver selber der Thäter war; befremdlich blieb auch die Unbesonnenheit, ein mit seinem Namen gezeichnetes Blatt unterzuschieben, und endlich – jeder weitere thatsächliche Anhalt gegen den Angeklagten fehlte. Die verschwundenen dreitausend Mark blieben verschwunden, als hätte die Erde sie verschluckt. In Anton Rövers Wohnung fanden sie sich nicht, er hatte sie auch nirgends hinterlegt, noch weniger verausgabt. Ebensowenig ließ sich etwas von der Abrechnung entdecken, in die sie eingeschlagen gewesen waren, auch nicht das kleinste Stück von ihr, nicht einmal ein Häufchen Asche im Ofen seiner Stube. Man stand vor einem Räthsel, das sich nicht dadurch lösen ließ, daß man auf Grund einer unsicheren Deutung der Indizien den Kassierer oder den Laufburschen für schuldig erklärte. So wurde denn nach langer aufregender Verhandlung Anton Röver freigesprochen „aus Mangel an Beweisen“.

Mit sehr getheilten Ansichten verließen die Zuhörer den Gerichtssaal. Die einen traten für die Unschuld des Angeklagten ein, die anderen – und das war weitaus die Mehrzahl – hielten ihn für den Thäter. Die Unterschiebung der Zeitung, meinten sie, sei zwar unbegreiflich und setze für den Augenblick der That eine völlige Verwirrung des Betrügers voraus, aber gerade solch verrätherische Dummheiten kämen bei den geriebensten Verbrechern vor, und hier sei die Möglichkeit dazu um so eher gegeben, als durch die Dazwischenkunft des jungen Meermann eine sorgfältigere Vorbereitung und Ausführung der Unterschiebung vereitelt worden sei. Man solle sich nur einmal die verdächtigen Züge des Angeklagten betrachten, diese unheimlichen Augen, diese finsteren Brauen; man solle auch nicht vergessen, daß sein Vater schon im Zuchthaus gesessen habe. Früher oder später komme eine solche Familienerbschaft immer wieder zum Durchbruch. Das Ergebniß dieser und ähnlicher Erörterungen, die tagelang das Stadtgespräch bildeten, war, daß der Verdacht auf Anton Röver lasten blieb. „Freigesprochen aus Mangel an Beweisen“ – die Formel gab dem Angeklagten die Freiheit zurück, aber nicht die Ehre.

Als das Urtheil verkündet wurde, hatte Julius Meermann, der eifrig dem Gange der Verhandlungen gefolgt war, erleichtert aufgeathmet. Einen Augenblick schwankte er, ob er den ehemaligen Freund begrüßen und zu seiner Freilassung beglückwünschen solle. Aber einige seiner Bekannten redeten ihn an, verwunderten

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