Seite:Die Gartenlaube (1892) 744.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Porzellan meiner Mutter zerschlagen, oder was ist sonst Erschütterndes geschehen?“

Er nahm bei diesen Worten Hörrohr und Verbandtasche aus dem Rocke, setzte sich in seinen Lehnstuhl vor dem Arbeitstisch und wies ihr lächelnd einen Sitz neben sich an. „Nun?“ fragte er dann.

Julia blickte ihm unverwandt ins Gesicht, und ihr fiel auf, daß er heute anders aussah als sonst, so viel ernster und dennoch förmlich verklärt; und sie kannte das Zucken in seiner Wange, so war es, wenn ihn etwas im Innersten erregte. Ach, sie hatte ja nur dieses Antlitz auf der Welt gesehen, immer nur dieses!

„Nun?“ fragte er noch einmal.

„Du sollst der Tante und Deiner Mutter klar machen, daß ich den Herrn Norban auf keinen Fall heirathen werde,“ sagte sie rasch.

Er fuhr herum und starrte sie an. „Aber Kind, wenn ich nicht wüßte, daß Du ein leidlich vernünftiges und ruhiges Geschöpfchen bist, so würde ich denken, in Deinem Kopfe sei es nicht ganz richtig; eine solche Zumuthung wird Dir wohl kein Mensch stellen!“

„Sie ist mir aber doch gestellt worden – Frau Norban selbst ist heute bei Deiner Mutter gewesen und hat um mich angehalten für ihren Sohn.“

Er lachte ungläubig auf; als er aber das ernste Gesichtchen so schmerzvoll zucken sah, rief er, aufspringend: „Das ist ja ein toller Gedanke, der reine Wahnsinn! Aber beruhige Dich, Kind, dafür bin ich noch da! Und da kommt ja die Mutter! Nun sei nur gut und zittere nicht, Kind!“

Die Räthin prallte förmlich zurück, als sie das junge Mädchen erblickte. „Na, hoffentlich machst Du ihr den Standpunkt klar!“ sagte sie ärgerlich.

„Habe ich bestens besorgt, indem ich ihr mittheilte, daß ich es schamlos finden würde, wollte sie äußerer Vortheile wegen eine wandelnde Leiche heirathen. Zum Glück scheint sie es nicht zu beabsichtigen.“ Er hatte sehr ruhig gesprochen, legte ein paar Broschüren von einem Platze des Schreibtisches auf einen anderen und fuhr fort: „Ich werde nachher zu Frau Norban gehen, um ihr für diesen Antrag in aller Form zu danken und ihr zu bemerken, daß ich bereit bin, die Behandlnllg ihres Sohnes weiter zu übernehmen, aber nicht hier, sondern in ihren eigenen vier Pfählen; und falls er eine Gesellschafterin und Pflegerin wünscht, solle er das nur in irgend einem größeren Blatte ausschreiben – es finden sich Hunderte. Und somit wäre uns und ihnen geholfen. – Hattest Du noch etwas zu sagen, Mutter?“

Nein, die Räthin hatte nichts mehr zu sagen, sie hätte ihre Meinung auch nicht aussprechen können, selbst wenn sie gewollt hätte, so schnürte ihr die bündige Erklärung des Sohnes die Kehle zu. Sie verließ stumm das Zimmer, und man hörte drinnen eine Weile nichts als das Dröhnen vom Zuschlagen der Stubenthür.

Dann ein leises Schluchzen – Mamsell Unnütz hatte das Gesicht in ihren Händen geborgen, und während ein nervöses Zittern sie durchschauerte, stieß sie abgerissene unverständliche Worte hervor. Erschreckt suchte er sie zu beruhigen; er hatte sie niemals weinen sehen, selbst als Kind nicht, und hatte sich früher oft gewundert über das starre Gehaben des immer gescholtenen Kindes. Nun berührte ihn dieser Ausbruch einer tief inneren Erschütterung unsäglich schmerzlich; er bog sich näher zu ihr, um besser zu verstehen, was sie wolle, um zu erforschen, was sie noch drücke. Ihn rührte das schwesterliche Vertrauen, das die arme Kleine zu ihm hegte, er hob das Köpfchen sanft empor und legte die Rechte beschwichtigend auf ihr Haar.

„Julia,“ bat er, „beruhige Dich doch; Du weißt nun, die Sache ist abgethan. Sieh, in jedem Menschen steckt ein gutes Stück Selbstsucht, in dem armen Kranken, der Dich heirathen will, ein doppelt großes, ein sträfliches Stück davon. Mußt ihm das nicht übelnehmen, er ist verzogen von seiner Mutter, immer nur gewohnt, alles zu bekommen, was er haben will. Doch diesmal darf er seinen Willen nicht durchsetzen, denn meine kleine Kameradin soll dieser Selbstsucht nicht geopfert werden.“

Aber unter den Wimpern des Mädchens rieselten noch immer heiß die Thränen hervor. Ihr graute vor dem, was nun kommen würde, vor den ewigen Vorwürfen, vor dem Leben, das nach diesem Ereigniß noch trostloser werden mußte als vorher; und die Sehnsucht nach Geborgensein, nach Zärtlichkeit, nach Liebe, nach dem einzigen Herzen, das sie verstand, war in diesem Augenblick stärker als sie. Ihr thränenüberfluthetes Gesichtchen hob sich empor, ihre Hände hatten sich gefaltet und ihre Lippen regten sich. Er bog sein Ohr zu ihrem Munde, um dieses lautlose Flüstern zu verstehen, und da hörte er deutlich, was sie meinte, und das Herz wollte ihm stille stehen vor Schreck.

„O, laß mich doch nicht mehr so furchtbar allein, Fritz! Sag’s ihnen doch, daß Du – daß wir beide – daß wir –“

Er ließ sie nicht ausreden. „Julia,“ sprach er laut und hob aufstehend das Mädchen mit empor, „Julia, besinne Dich!“ Und als ihr in demselben Augenblick die rothe Flamme der Scham über das Antlitz schlug, da zog er sie an sich und sagte mit bebender Stimme: „Julia, meine arme kleine Schwester, Du bist nicht verlassen, Du wirst es nie sein, und zum Beweis, wie lieb Dich Dein alter Gespiele hat. will er Dir etwas anvertrauen. Aber komm, setze Dich neben mich –“ und er zog sie neben sich auf das Sofa. „Ich will Dir etwas anvertrauen, das ich mir vor kurzem selbst noch kaum zu gestehen wagte, noch gestern nicht, und das ich niemand sagen könnte außer Dir, meiner kleinen Kameradin. Julia – ich –“

Er stockte plötzlich und sprang auf. Es war ein furchtbares Gift, das er im Begriff stand, als Heilmittel anzuwenden, möglicherweise lebenzerstörend; und das Wort wollte ihm nicht aus der Kehle, obgleich er sich sagte, daß dieses Mittel das einzige sei, das helfen könne. Dann aber kam er entschlossen zurück und stellte sich vor das Mädchen, das geisterhaft still auf dem Sofa saß, ein irres Lächeln um den Mund. „Julia, ich liebe, und ich weiß seit heute früh, ich werde wieder geliebt. Ich weiß, Du – Du – auch Du wirst Therese gern haben, als Schwester, als meine Frau –“

So hatte er sich die Wirkung nicht gedacht! Ein wahrhaft versteinertes Antlitz starrte ihm entgegen und ein Ausruf, so schrill und weh, schlug an sein Ohr, daß er meinte, so etwas Bitteres nie gehört zu haben.

„Nein!“ hatte sie gerufen, „nein, sag’ das nicht – Therese nicht! Um Gotteswillen, sag’, daß es nicht wahr ist!“

Sie lag jetzt vor ihm auf den Knien, aufgelöst in Angst und Schmerz. Er hätte dem schüchternen mädchenhaften Geschöpf nie die rasende Leidenschaft zugetraut, die aus den großen dunklen Augen sprach, aus dem Tone ihrer Stimme, aus dem Zittern der Glieder. „Julia!“ rief er unwillig und trat einen Schritt zurück.

Sie stand nicht auf. „Fritz, ich bitte Dich – Du darfst nicht – sie darf nicht – Du weißt ja nicht – – Großer Gott, es kann ja nicht möglich sein!“

Da riß eine harte Hand sie empor. „Vergißt Du allen Anstand?“ rief die Räthin, die den Aufschrei des Mädchens bis in den Flur gehört hatte, „pfui über Dich! Hier zu Lande werfen sich die Mädchen den Männern nicht an den Hals – verstanden?“

Und als die Auftaumelnde mit den Händen an die Schläfen fuhr und dastand, wie aus einem furchtbaren Traume zur noch entsetzlicheren Wirklichkeit erwacht, da fuhr die Räthin fort: „Ja, schäme Dich nur! Aber ich hab’s längst geahnt, daß Du in den Fritz vergafft bist, hab’s nur nicht sagen wollen!“ Mit diesen Worten griff sie wieder nach des Mädchens Arm, um es hinauszuführen. Aber sie griff in die Luft; Mamsell Unnütz war lautlos zusammengesunken, und der Doktor trug die Ohnmächtige aufs Sofa.

„Gerechter Gott!“ rief die Räthin, „was habe ich Dir immer gesagt, es steckt etwas fürchterlich Gewöhnliches in diesem Mädchen.“

„Mutter,“ sprach er bebend, indem er sich um die Leblose bemühte, „wenn ich nicht wüßte, daß Du es nicht so schlimm meinst, wie es klingt – bei Gott, ich könnte irre werden an Dir! Habe die Güte und hole Wein und gieb mir den Aether dort!“

„Na,“ sagte die Räthin während sie gelassen die Dinge herbeiholte, „ihre Mutter hat’s ja gerade so gemacht, und der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Ich bin nur über eins froh, daß ich bei der Gelegenheit erfahre, daß Ihr einig seid, Du und das Thereschen, das macht mein Alter glücklich – da wacht sie schon wieder,“ setzte sie hinzu.

Es war so. Julia richtete sich langsam empor. Mit einer stummen Bewegung wehrte sie die Hand und Begleitung des Doktors ab, dann ging sie schwankend durch das Zimmer dem Ausgang zu. Ein wunderliches Lächeln zog um ihren Mund.

Droben legte sich Julia still auf ihr Bett; sie wußte nicht klar, was sie that, sie fühlte nur, daß etwas anders sei in ihr und um sie. Sie griff nach dem Herzen, das sie heftig schmerzte, und dabei lächelte sie wieder. Niemand kam, um nach ihr zu schauen, wer sollte auch? –

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 744. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_744.jpg&oldid=- (Version vom 15.8.2022)