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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

doch eigentlich ruhelos war, die es nicht ausgehalten hätte, ohne daß sie jeden Tag drei- bis viermal durch den Garten zum Strome hinuntereilen, im Sommer hinausrudern konnte mit den zarten und doch so kräftigen Armen, sie mußte es doppelt mitleidsvoll empfinden, wenn sie einen Menschen erblickte, der nur von seinem Rollstuhl aus die Natur genießen konnte. Aber diese ihre Theilnahme brachte dem armen Menschen auch noch ein krankes Herz. Er meinte plötzlich, in dem schönen freundlichen Wesen das gefunden zu haben, was ihn mit dem Leben versöhnen könne, und heute in der Mittagsstunde war seine Mutter erschienen und hatte die Räthin um eine Unterredung unter vier Augen bitten lassen.

Sie war Witwe, eine stolze Frau, die sich nie in den Andersheimer bürgerlichen Kreisen gezeigt und mit ihrem Sohne ganz für sich gelebt hatte.

Ein sehr armes Mädchen aus altem französischen Adel war sie gewesen, als Herr Norban sie kennenlernte, gerade nachdem ihr Vater den letzten Kreuzer am Spieltisch verloren und sich dann in plötzlicher Verzweiflung erschossen hatte. Dies mochte zu dem Entschluß beigetragen haben, den bürgerlichen Bewerber um ihre Hand zu erhören und ihm als Gattin nach seiner schönen Villa am Rhein zu folgen. Glücklicherweise lag diese durch einen weitläufigen Park von der Fabrik getrennt; sie mochte nicht gern daran erinnert werden, daß ihr Eheherr „Deutschen Schaumwein“ fabriziere, wenngleich es ihr ein kleiner Trost war, daß Napoleon III. der Sage nach einst um die schöne Veuve Cliquot gefreit habe. Aber sie war doch eine Frau von Charakter und dazu eine schwer geprüfte Frau. Ihr armer einziger Sohn, ihr Alphonse, der zu den herrlichsten Hoffnungen berechtigt hatte, war seit seinen Knabenjahren ein Krüppel. Er hatte, stark erhitzt, im Rheine gebadet und war gelähmt nach Hause getragen worden – ein furchtbarer Schlag für die Frau, die dennoch ihren Muth nicht verlor. Sie suchte dem vergötterten Sohne jeden Wunsch zu erfüllen, sie gab ihm die sorgfältigste Erziehung, und als sein Vater an den Folgen seiner im Kriege gegen Frankreich erhaltenen Wunden starb – er hatte an dem Feldzug als Reserveoffizier theilgenommen – da ward sie nicht nur der alleinige Trost ihres Knaben, da ward sie auch eine Deutsche; sie vergab es ihren Landsleuten nie, daß sie dem armen Jungen den Vater geraubt.

Und diese Frau kam heute, um für ihr geliebtes Kind Hand und Herz der kleinen Mamsell Unnütz zu fordern.

Sie hatte sich achtundvierzig Stunden verzweifelt gegen diesen Plan zur Wehr gesetzt, ihr Herz war beinahe gebrochen darüber. Sie hatte dem Einzigen alles sein wollen, und der Gedanke, seine Liebe mit einer anderen theilen zu müssen, war ihr fürchterlich. Aber nun hatte sie sich darein ergeben, es beherrschte sie nur noch die Angst, er, der Krüppel, könnte verschmäht werden.

Der Räthin schwindelte es förmlich, als ihr Frau Norban gemeldet wurde; denn die stolze Frau pflegte keinerlei Verkehr zu suchen. Nun saß sie wie ein Steinbild auf dem Kanapee neben der Dame, deren schwarzes Schnurrbärtchen auf der Oberlippe sie zum ersten Male in der Nähe sah und deren zobelverbrämter Sammetmantel vollends dazu beitrug, der Frau Rath den Verstand zu verdrehen.

Enfin,“ sagte Frau Norban, „Alphonse liebt dieses junge Mädchen; was er ihr zu bieten hat, ist ja doch immerhin sehr viel. Ein Vermögen – wir würden sie für den Fall seines frühen Todes aufs beste versorgen – eine Stellung, die rührende dankbare Liebe seines guten Herzens. Er – –“ sie fuhr mit der Hand über die Augen und wischte eine Thräne weg.

„Aber, ich bitte Sie, gnädige Frau,“ versicherte die Räthin, „welches Mädchen würde nicht glücklich sein, wenn Ihr Herr Sohn – – und heirathen will er die Julia?“ unterbrach sie sich, aufs neue in Erstaunen gerathend, „wirklich heirathen?“

Frau Norban räusperte sich. „Da ich persönlich als seine Fürsprecherin komme, so dächte ich, die Sache sei klar. Die Tante der jungen Dame ist mir als schwer zugänglich geschildert worden, deshalb wende ich mich an Sie, meine liebe Frau Rath.“

„O Gott,“ antwortete diese, als sei ihr selbst ein großes unverhofftes Geschenk in den Schoß gefallen, „welch ein Glück für das Kind und für meine arme Schwester!“

„Bitte, ermöglichen Sie es mir, das junge Mädchen zu sehen.“

„Wie? Sie kennen das Julchen noch gar nicht?“

Frau Norban schüttelte den Kopf. „Nur aus der Beschreibung meines Sohnes.“

Die Räthin eilte, so rasch es auf ihren Filzschuhen ging, aus dem Zimmer und die Treppe hinauf. Julia stand droben in der Küche und rührte die Hafermehlsuppe für Tante Riekchen, die durch das Ausbleiben aller Nachrichten von dem Pflegesohn krank geworden und wie gebrochen im Bette verblieben war.

Gleich einer Gewitterwolke schoß die Räthin auf ihren unhörbaren Sohlen in die Küche und roth vor Aufregung schrie sie mit zitternder Stimme dem erschreckten Mädchen zu:

„Mach’ rasch, zieh’ Dir ein anderes Kleid an, wasch’ Dir die Hände, es ist jemand drunten –“ Sie schnappte nach Luft – „Mach nur fix und komme recht nett und lieb, hörst Du?“

„Und was soll ich unten, Tante?“ fragte Julia ruhig.

„Eine Dame ist ohnmächtig geworden – bring’ ein Glas Wasser!“

Die Räthin fand diese Ausflucht selbst außerordentlich thöricht, als sie die Treppe hinunterschoß, aber es fiel ihr rein nichts anderes ein. Sie saß, noch heftig nach Athem schnappend, neben ihrem Besuch, als sich langsam die Thür aufthat und das junge Mädchen erschien mit einem Tellerchen, auf dem ein Glas frischen Wassers stand. Sie hatte sich nicht umgekleidet, denn nach ihrer Meinung war die Robe, in der man einem Ohnmächtigen zu Hilfe eilt, nur Nebensache, und so kam sie in ihrem knappen dunklen Wollkleidchen, mit leicht vom Herdfeuer geröthetem Antlitz.

Frau Norban, die keine Ahnung hatte, daß sie als eine Ohnmächtige gelten sollte, nahm die Lorgnette und sah mit erstaunten Augen der eigenartig reizenden Erscheinung entgegen. Ja, nun verstand sie alles; sie kannte den glühenden Schönheitssinn ihres Sohnes, sie selbst hatte ihn ausgebildet. Und dieses Geschöpf, diese blühende Schönheit, die wollte er für sich haben, der arme Bub’? Sie ließ die Lorgnette fallen und senkte die Augen vor denen Julias, die ihr das Glas Wasser darbot.

„Ich danke Ihnen, mein liebes Kind.“

„Der gnädigen Frau ist schon besser!“ rief die Räthin.

„Ja, aber wollen Sie nicht einen Augenblick Platz nehmen?“ fuhr Frau Norban mit leise verwunderter Miene fort, als Julia sich umwandte, um wieder zu gehen. „Ich möchte nämlich,“ fuhr sie fort und zog das Mädchen auf den Stuhl an ihrer Seite, „ich möchte Ihnen danken. Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Sie durch meinen Sohn.“

„Doch, Frau Norban, ich kenne Sie,“ antwortete Julia. „Ihr Herr Sohn hat mir oft genug von seiner Mutter erzählt.“

„That er das?“ fragte sie, freudig erröthend. „Er ist ein guter Mensch, ein guter edler Mensch, ich kann es sagen als glückliche Mutter. Sie sollten seine Gedichte lesen – wollen Sie? Ich werde sie Ihnen schicken; Sie lernen daraus sein ganzes Herz kennen!“

Julia hielt die Wimpern gesenkt. „Ich werde mich sehr freuen,“ antwortete sie verlegen. Sie fühlte, daß irgend etwas Ungewöhnliches die Frau so sprechen ließ.

„Und wollen sie mich einmal besuchen? Ja? Das ist lieb von Ihnen. Vielleicht heute nachmittag?“

„Es thut mir leid, gnädige Frau, aber meine Tante ist gerade heute besonders leidend.“

„Ach was, papperlapapp!“ fiel die Räthin ein, „deshalb kannst Du ruhig gehen, ich sehe schon nach ihr; wirst doch nicht immer bei ihr hocken können!“

„Sie sind ein gutes Kind,“ sprach Frau Norban und erhob sich. „Heute also nicht, aber morgen lasse ich mir keinen Korb geben, morgen schicke ich Ihnen den Wagen. Und nun leben Sie wohl – auf Wiedersehen!“

Sie hatte beide Hände von Mamsell Unnütz erfaßt, und ein wehmüthiges Lächeln zog sich um ihre vollen Lippen, als sie die süße kindliche Verlegenheit beobachtete, die sich auf des Mädchens Gesicht ausprägte.

„Auf Wiedersehen, liebes Kind – adieu, Frau Räthin!“

Sie ging der Thüre zu. Julia blieb wie angewurzelt stehen, die Räthin aber eilte der Weggehenden nach und begleitete sie über den Hof bis zum Wagen. Als sie zurückkam, stieg eben das junge Mädchen die Treppe wieder hinauf.

Daß Gott erbarm’! Nicht einmal neugierig war dieses hölzerne Ding!

„So wart’ doch,“ schrie sie, „daß die Tante nicht einen zu großen Schreck bekommt!“

„Weshalb einen Schreck?“ fragte Julia, stehen bleibend.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 742. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_742.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2023)