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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

und selbsterworbenes Brot essen könntet; einzig darum bin ich Deinem Eintritt in den Kaufmannsstand nicht entgegen gewesen, Julius, weil jenes Ziel im Kaufmannsstand früher und vollständiger von Dir erreicht werden konnte, als wenn Du gleich Deinem seligen Vater ein Beamter geworden wärest. Dein Vater hat vier Kassen unter seiner Hand gehabt, er genoß das Vertrauen seiner Vorgesetzten wie kein zweiter, und wäre er nicht in der Blüthe seiner Jahre von uns genommen worden, man würde ihm als Auszeichnung den Titel ‚Kommissar‘ verliehen haben. Und das Rechtthun ist ihm nicht immer leicht geworden, das glaubt nur! Die Versuchung ist auch an ihn herangetreten wie wohl an jeden armen Teufel, dem große Summen fremden Geldes durch die Hände gehen. Da war ein Assessor, ein hübscher lustiger Mensch und seiner Mutter einziger Sohn, nicht schlecht, nur der Spielteufel hatte ihn erfaßt – der kam eines Tags zum Vater und raunte ihm zu, er wolle eine Anleihe bei der Kasse machen, wenn sie dieselbe miteinander verschlössen, wie ihr gemeinsames Amt war. Auf eine einzige Nacht nur wolle er das Geld haben, morgen früh sei es wieder am Platze, und wenn der Vater ein Auge zudrücken wolle, so solle ihm das hundert Thaler einbringen. Wir konnten das Geld brauchen dazumal, das wußte der Versucher auch, denn der Hunger saß bei uns zu Tisch und die Grete lag am Scharlach auf den Tod danieder, wir aber wußten nicht, womit Arzneien und Doktor bezahlen. Dazu waren wir in Schulden gerathen, weil der Vater Euren Onkel hatte freikaufen müssen, den sein Prinzipal vor Gericht stellen wollte, da er Unterschlagungen und andere faule Geschichten gemacht hatte. Dem Vater ging es an die Ehre, daß ein Meermann und vollends sein Bruder sollte im Zuchthaus sitzen, er raffte unser bißchen Erspartes zusammen, entlehnte, was noch fehlte, ersetzte das Entwendete und schickte den heillosen Menschen nach Amerika, wo er dann gestorben und verdorben ist. Die Versuchung war also groß genug, aber Euer Vater schlug dem Herrn sein sauberes Begehren trotzdem rund ab und kam zu mir nach Haus und wagte kaum, die Augen aufzuschlagen. Und wie er die Grete sah, die in der Fieberhitze sich in ihrem Bettchen wälzte, und den leeren Tisch und mein vergrämtes Gesicht, da liefen ihm die hellen Thränen über die Wangen. Dann erzählte er mir die Geschichte und schloß, immer noch mit Thränen in den Augen: ‚Verzeih’ mir, Anna, vielleicht war’s nicht gut gethan gegen Dich und die Kinder, aber – ich konnte nicht anders!‘ Ich jedoch fiel ihm um den Hals und rief: ‚Dafür sei Gott gelobt, daß Du nicht anders konntest, und ich will Dir’s in Ewigkeit danken. Lieber in Ehren zur Grube fahren, als leben in Schande und Sünde!‘ Der junge Mensch aber, der Euren Vater in Versuchung führte, hat ein tranriges vorzeitiges Ende genommen durch eigene Hand, nachdem er einen Freund, der sich ihm willfähriger erwies als Euer Vater, mit sich ins Verderben gestürzt hatte.“

Wäre die Frau nicht so vertieft gewesen in die Ausmalung einer Vergangenheit, die sie nicht müde wurde, ihren Kindern immer neu vor Augen zu halten, sie hätte bemerken müssen, daß des Sohnes Blick nicht mehr so groß und offen auf ihrem Gesicht ruhte wie vorhin, daß eine leise Röthe seine Wangen färbte und daß er unsicher über das Kaffeegeschirr hinweg nach der Straße sah. Dort ging eben ein Trupp junger Leute vorüber mitten zwischen den Wagen hindurch. Einer von ihnen war einen Augenblick an der Einfriedigung des Gartens stehen geblieben. Sein Blick begegnete flüchtig dem des jungen Meermann, er zog seine Börse hervor, öffnete sie, schien darin zu suchen und drehte sie dann nach allen Seiten, so daß, wenn Münzen darin gewesen wären, sie unfehlbar hätten herausfallen müssen. Und da keine herausfielen, zuckte er die Achseln, lachte und lief, ein Liedchen singend, den anderen nach. Mit scheuem Zögern blickte der junge Mann nun wieder auf seine Mutter. Wie sie schwelgte in der Erinnerung an den siegreich durchgefochtenen Kampf mit der Sünde! Welch strenges Antlitz, jeder Zug wie gemeißelt – das feste breite Kinn, die scharfen grauen Augen, der energische Mund! Sie mochte ihres Weges allzeit sicher gewesen sein, und von all den Furchen in ihrem Gesicht hatte der Zweifel keine gegraben und keine die Reue. Zum ersten Male fiel dem Sohne mit Schrecken auf, wie anders er selbst geartet sei, daß weitgreifende Wünsche, unbezähmbare Leidenschaften in seinem Herzen brannten, in seinem Urtheil Recht und Unrecht durcheinander wirrend, die sie auseinander hielt, gemächlich und sicher wie die weiße und schwarze Wolle der Strümpfe, an denen sie strickte.

Aber gewaltsam schüttelte er das unbestimmte Grauen ab, das ihn vor seinem eigenen Wesen beschleichen wollte, und da die Mutter eine Antwort zu erwarten schien, erwiderte er leichthin:

„All dem, was Du sagst, widerspreche ich nicht, Mutter. Allein Röver gilt für einen tüchtigen Kaufmann, einen rechtschaffenen Menschen. Die Grete braucht ihn, bloß weil er sie hundert anderen vorzieht, nicht gerade schlechter zu behandeln als einen Stiefelputzer. Thut der arme Kerl Dir denn gar nicht ein bißchen leid, Schwesterchen?“

„Leid! Nach der Unsumme von Aerger, die ich täglich wegen seiner Zudringlichkeit ausstehen muß! Den ‚Augen-Anton‘ haben sie ihn im Geschäft geheißen – meinst Du, daß es erfreulich ist, als ‚Augen-Antonie‘ nebenher zu laufen und sich mit dem greulichen Teckel, dem Waldmann, den er auch heute wieder mitgeschleppt hat, in seine Gunst zu theilen?“

In diesem Augenblick kamen zwei Mädchen durch den Garten geschlendert, sehr elegant gekleidet, mit ungeheuren Hüten und hohen Sonnenschirmen. Grete stand auf und rief im Gehen der Mutter entschuldigend zu: „Fräulein Meier und Fräulein Rothart aus unserem Geschäft. Man muß ihnen doch guten Tag sagen.“

An der Art, wie das geschah, sah man, daß sie es gern that. Die Vertraulichkeit, die durch die gleiche Beschäftigung in einem und demselben Arbeitsraum erzeugt wird, sprach aus dem Händeschütteln, dem Lachen.

Zwölf Stunden von jedem ihrer Tage verlebten die Mädchen Seite an Seite. Jede wußte von der andern so ziemlich alles – da war man um Rede und Antwort nicht verlegen; die Freundschaften, die Intriguen, die Liebeleien – der Stoff riß nicht ab. Ob Fräulein Meermann den Bräutigam der ersten Direktrice schon gesehen habe? Ein richtiger Bräutigam mit einem Ringe und ehrlichen Absichten. Nun, er war danach! Die beiden hatten das Glück gehabt, dem Paare zu begegnen.

Mitten in der Erörterung dieser interessanten Beobachtung kniff Fräulein Rothart, eine hochgewachsene Blondine, die über der Menschen Häupter hervorragte und daher über das Gedränge rings wegsah, ihre Gefährtin in den Arm. „Sehen Sie doch da drüben – der ‚Augen-Anton!‘“

Aber Frida Meier ließ ihre großen dunklen Augen gleichgültig an dem Kassierer vorüberschweifen zu dem Tische, von dem Grete gekommen war.

„Wohl Ihr Bruder, Fräulein Meermann? Er hat Schick, der junge Mann. Wird wohl bald jemand anders als Mutter und Schwester am Sonntag auszuführen haben.“

Sie kam von auswärts, aus der lustigen Stadt Köln, und ihre niederrheinische Aussprache klang gemüthlich zwischen dem nordischen Hochdeutsch der Freundinnen.

„Ach nein,“ erwiderte Grete, „das hat gute Wege. Unser Julius ist zu gescheit, um sich zu verplempern; auch will er hoch hinaus.“ Und als sei ihr darum zu thun, den Beweis ihrer gänzlichen Sorglosigkeit in diesem Punkte zu liefern, winkte sie den Bruder herbei. „Mein Bruder Julius .... Fräulein Rothart – Fräulein Meier, die Dich gern kennenlernen möchte.“

Der junge Mann sagte etwas Verbindliches. Unterdessen stieß die Rothart Gretchen an. „Fräulein Meermann, da kommt ’was für Sie!“

In der That, durch die Anwesenheit des jungen Meermann kühn gemacht, schlängelte sich Herr Röver heran – das Verlangen seines Herzens hatte den Sieg über seine Schüchternheit davongetragen, und plotzlich stand er mit höflichem Gruße mitten unter seinen Kolleginnen.

„Ich habe die Ehre, Ihnen einen guten Tag zu wünschen, meine Damen – Herr Meermann! Es – es – ja, es ist ein schöner Nachmittag.“

„Sehr schön.“ Frida zupfte verstohlen die Rothart am Kleide und that, als müßte sie ersticken vor unterdrücktem Lachen.

Aber Anton Röver schaute über die Spötterin hinweg Gretchen ins Gesicht, ob dort nicht ein Schimmer von Gnade aufleuchte, Verzeihung für seine Annäherung zu lesen sei. Seine finsteren Augen zeigten dabei ganz denselben wunderlichen Ausdruck von großem Bangen, gemischt mit grenzenloser Ergebenheit, wie die seines vierfüßigen Freundes, wenn dieser beim Zuckernaschen ertappt wurde.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 726. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_726.jpg&oldid=- (Version vom 3.4.2023)