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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

den die Choleraangst um uns gezogen hat, nicht gebrochen wird kann es nicht besser werden.“

  Im Waisenhaus.

„Noch brauchen wir nicht zu verzagen,“ fuhr mein Freund fort, „man wird sich in Deutschland erinnern, daß die Hamburger gute Deutsche sind. Begnügt man sich mit den wirklich gebotenen Vorsichtsmaßregeln, so wird nach und nach wieder neues Leben hier zu pulsieren beginnen. Und das ist eine Hilfe, so nothwendig wie irgend eine, die man uns bieten kann – möge sie bald kommen, sonst weiß ich nicht, wie wir die jetzigen Einbußen überwinden sollen; sonst ist die Franzosenzeit, ist der große Brand Hamburgs noch nichts gegenüber der Katastrophe der Cholera-Tage von 1892!“

Ich konnte nicht widersprechen. –

Am Abend desselben Tages führte mich meine Frau vor den großen Tisch der Wohnstube, der vollgepackt war mit Spielsachen der verschiedensten Art. „Das haben unsere Kleinen von ihren Sachen zusammengesucht und von den Nachbarskindern erbeten. Du kannst es gewiß morgen früh nach dem Brookthorquai schaffen lassen. Ich erzählte ihnen von den unglückliche Cholera- Waisen, und da haben sie in richtigem Mitgefühl gemeint, ein wenig Spielzeug würde die Verlassenen zerstreuen und aufheitern, ‚da brauchten sie doch nicht den ganzen Tag um ihre Eltern zu weinen.‘ Und Freund B.s größere Mädchen haben sich mit einigen Bekannten vereinigt, um Kinderkleider und Hemden für die Waisen zu nähen. Fehlt es doch, wie ich heute erfahren habe, den allermeisten derselben am Nöthigsten, denn ihr bißchen Zeug ist entweder durch unvernünftige Desinfektion verdorben oder, weil aus Lumpen und Fetzen bestehed, gleich kurzer Hand verbrannt worden. Der Staat allein kann da nicht helfen, selbst die Vorräthe des Waisenhauses reichen nicht aus. Also nicht wahr, Du läßt die Sachen hinbringen?“

„Nein, liebes Kind, ich gehe selbst hin. An Mitteln zur nachherigen Desinfektion wird es am Brookthorquai nicht fehlen. Sei unbesorgt, ich werde dabei nicht angesteckt. Man nimmt es jetzt nicht nur da, wo die unmittelbarste Gefahr vorliegt – in den Cholera-Baracken – sondern an allen bedrohteren Punkten mit der Desinfektion peinlich genau.“

Als ich am anderen Morgen, mit großen Paketen beladen, im Vorzimmer der Uebergangsstation stand – meine Kinder hatten sich’s nicht nehmen lassen, einige Bündel bis zur Thür zu schleppen – empfing mich ein freundlicher Herr, ein Lehrer, der auf die Frage, ob Spielzeug angenommen würde, erfreut antwortete: „Sehr willkommen!“ Gleich darauf stand ich zwischen einer gonzen Schar von Kleinen. Aber betrübt waren sie durchaus nicht, diese Elternlosen. Sie waren zu jung, um den erlittenen Verlust zu begreifen; so lachten und spielten sie ganz vergnügt zwischen den Betten des bescheidenen Gasthofes, in dem sie untergebracht waren. Als der Lehrer sagte: „Hier giebt’s Spielzeug!“, da erhob sich ein wahres Jubelgeschrei. Ganz verwundert sah mich ein kleines Mädchen an, als mir beim Austheilen trotz alles Strebens, mich zu beherrschen, die Thränen über die Wangen liefen. Sie flüsterte mir die Versicherung zu, gestern recht artig gewesen zu sein und es heute wieder sein zu wollen, immerzu, so lange, bis Papa und Mama aus dem Krankenhaus zurückkämen . . . Arme Kleine! Beim zweiten Besuch erfuhr ich, daß ihre Eltern längst im Grabe schlummerten, in dem großen Massengrabe in Ohlsdorf, wo allnächtlich bei Fackelschein so viele schlichte Särge beigesetzt werden, ohne Kranz, ohne Schild, nur mit einer blechernen Nummer versehen.

Aber wenn diese Armen auch für den Augenblick wohl aufgehoben und zufrieden sind in ihrem glücklichen Vergessen . . . wie soll es in Zukunft werden? Bald müssen sie ja doch zum Bewußtsein dessen kommen, was sie verloren haben – müssen wir da nicht dafür sorgen, daß sie dann zugleich das Bewußtsein hegen können: edle Menschen haben uns nicht verlassen in unserer Noth; haben wir die treuesten Herzen, die es auf Erden giebt, die Elternherzen, verloren, so durften wir andere dafür gewinnen, die mit hilfreicher Hand die härtesten Härten des Lebens uns erleichtern wollten und erleichtert haben! Wie solche Hilfe zu leisten sei, darüber sei es mir gestattet, eine kleine Notiz anzuführen, die ich eben in einem hiesigen Blatte finde. Sie lautet: „Eine große Zahl von Kindern ist durch die Cholera verwaist worden. Wenn auch für den Anfang für die Verpflegung und Unterhaltung der Kinder gesorgt worden ist, so ruht ihre Zukunft doch noch im Dunkeln. Manche finden eine freundliche Aufnahme bei kinderlosen Eheleuten und Witwen und sind nach Menschendenken wohl versorgt, viele andere aber müssen von den Behörden untergebracht werden, und wenn ihnen auch volle Liebe und Theilnahme entgegengebracht wird, so sind sie doch die ärmsten und beklagenswerthesten Opfer der durch die Cholera entstandenen Noth. Wenn sie konfirmiert worden sind und ein Geschäft erlernen sollen, stehen sie mittellos da. Ihnen durch die jetzt überall thätige Menschenliebe ein kleines Kapital zu verschaffen, damit sie später nicht durch zu große Armuth an ihrem Fortkommen gehindert werden, hat sich ein Komitee, bestehend aus den Herren Pastor Blümer und Pastor Schoost, Dr. O. Meier und Direktor K. Stalmann, gebildet. Dieses Komitee wird freiwillige Gaben von Fern und Nah annehmen, darüber Abrechnung geben und die Verwaltung der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 723. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_723.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2023)