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verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Aber auch dieser blieb hier vielen versagt. Ich war Augenzeuge, wie hart es eine mir sehr nahestehende Familie empfand, daß der Leichnam des Vaters, kaum daß der Entschlafene den letzten Hauch gethan, sofort im zugelötheten Zinksarg hinausgeführt werden mußte nach der Friedhofskapelle.

Wenn man da nach dem Frühstück Abschied nimmt von den Lieben bis zum Nachmittag oder Abend, dann drängt sich immer wieder der herzbeklemmende Gedanke auf: werde ich euch auch wiedersehen? Gehören nicht auch meine Kinder morgen schon zu den Cholera-Waisen?

Freilich, gleich auf dem Wege zum gewohnten Tagewerk, tritt der Gedanke an das eigene Wohl und Wehe zurück vor dem allgemeinen Elend, das sich einem aufdrängt und die Betrachtungen in Anspruch nimmt. An allen Straßenecken, an den Häusern, Bäumen, Zäunen – überall mahnen die zu Tausenden angeklebten rothen und grünen Zettel, kein ungekochtes Wasser aus der Leitung zu trinken oder sonst irgendwie zu benutzen, kein rohes Obst zu essen. Alle Gossen, alle Haustreppen und Schwellen sind reichlich mit Karbolsäure besprengt, den scharfen Geruch spürt man auf Schritt und Tritt. Wagen mit gekochtem Wasser, das unentgeltlich abgegeben wird, fahren durch die Straßen, Volksküchen sind errichtet. Wer seinen Schritt zur Elbe lenkt, der kann dort die Staatsbarkasse beobachten, welcher die hygieinische Ueberwachung des Schiffsverkehrs obliegt. Mein täglicher Weg führt durch die Steinstraße, in gewöhnlicher Zeit eine der belebtesten Verkehrsadern der Altstadt und selbst in den schlimmsten Tagen, als täglich über tausend Erkrankungen und nahe an fünfhundert Todesfälle vorkamen, auf den ersten Blick immer noch von regem Treiben erfüllt. Aber bei näherer Beobachtung zeigte sich der Unterschied. Die Schulkinder mit dem Ränzel auf dem Rücken und der Frühstückskapsel an der Seite fehlten, alle Lehranstalten mußten ja geschlossen werden. Die lange Reihe der Fischfrauen am südlichen Bürgersteig war verschwunden; niemand hatte mehr ihre Ware begehrt. Der Obstverkauf auf der Straße war verboten worden, so hatten die Fruchthändler, die sonst hier umherzogen, anderen Erwerb suchen müssen – viele dieser armen Leute sind noch heute auf dieser Suche. Und müßig stehen die kleinen Lebensmittelhändler, die in Hamburg den Namen „Käsehöker“ führen, in der Ladenthür; vor ihren Hauptartikeln, Butter und Käse, warnt täglich aufs eindringlichste die „Cholera-Kommission“. Ich grüße einen mir bekannten Ladeninhaber: „Wie geht’s denn?“ Er antwortet, die Frage auf sein Geschäft beziehend, mit traurigem Kopfschütteln: „Verdient wird nichts. Von dem wenigen, das ich verkaufe, muß ich das meiste auch noch anschreiben. Noch eine Woche halte ich’s zur Noth aus. Dann – ja, was dann!“

Die Staatsbarkasse beim Desinfizieren eines Elbekahns.

Vor einem Hofe hält ein zweispänniger Wagen, mit Schmutz bespritzt. Ein Krankenwärter schließt eben dessen Thüre, schwingt sich auf den Bock, und in raschem Trabe rollt das Fuhrwerk dahin. Herzzerreißend tönt von oben her, aus dem Fenster einer niederen Dachwohnung, das Jammern und Schluchzen von Kinderstimmen – die unbarmherzige Seuche hat den armen Kleinen vor wenigen Stunden den Vater und nun die Mutter entrissen. Einige mitleidige Nachbarinnen gehen hinauf in die verödete Wohnung, um nach den Verwaisten zu sehen; die umherstehende Menge mit den ernsten blassen Gesichtern löst sich auf. „Heute schon der dritte Transport aus diesem Hofe!“ murmelt einer im Weggehen und schüttelt den Kopf.

Und so viele von den mir Begegnenden tragen schwarze Kleidung!

Da kommt ein Bekannter vom Hilfskomitee, ich begleite ihn ein Stück Weges. „Schon beinahe zwei Millionen Mark für die Nothleidenden gesammelt, wie das heutige Verzeichniß ausweist,“ bemerke ich, nachdem ich ihn begrüßt habe. „Das übersteigt alle Erwartungen.“

Desinfektionsraum in einer Cholera-Baracke.

„Ein Tropfen auf einen heißen Stein,“ antwortet er sehr ernst. „Wenn die Seuche noch monatelang anhält, ist Hamburg ruiniert. Zu thun haben nur die Aerzte, die Apotheker und Droguisten, die Weinhändler und Spirituosenverkäufer, die Tischler, soweit sie Särge anfertigen, und die Leichenträger, auch die Zimmerleute beim Barackenbau. Fast das gesammte Kleinhandwerk feiert. Wer will sich neue Kleider oder Mobilien anschaffen, wenn er darauf gefaßt sein muß, morgen in einen jener Wagen zu wandern? Das Schlimmste aber ist und bleibt: unser Lebensnerv ist gelähmt! Ich fragte heute einen Schiffsmakler: ,Wie sieht es im Hafen aus?‘ Er erwiderte nur ein einziges Wort: ‚Tot!‘“

„Freilich – das ist das Hauptunglück, daß man an so vielen Orten in Deutschland und auswärts alles, was von Hamburg kommt, in Acht und Bann gethan hat, seien es auch die harmlosesten Gegenstände, die unschädlichsten Waren, die nach bestimmter amtlicher Versicherung der Reichsregierung nie und nimmermehr die Krankheit übertragen können. Ehe der furchtbare Bannkreis,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1892, Seite 722. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_722.jpg&oldid=- (Version vom 27.3.2023)