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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Leben beginnen – keine täglichen Sektkneipereien mehr, keine kostspieligen – ich meine die Damen vom Ballett – verstanden? Und die Karten, die Karten! Es ist die Warnung eines Mannes, der’s gut meint. Im Grunde könnte mir’s ja gleich sein, was aus Ihnen wird; aber – sehen Sie –“ Er stockte, pfiff ein paar Takte, räusperte sich dann und sprach weiter:

„Da drüben das alte Fräulein, das Sie Ihre Pflegemutter nennen, das will mir nicht mehr aus dem Kopfe. Geh’ ich da vor ein paar Tagen über die Promenade am Rhein und treffe sie. Ich hatte sie lange nicht, wie man so sagt, bei Tageslicht beschaut, und ich erschrak über die tausend Sorgenfalten, die sie sich angegrämt hat um – Ihretwillen, Herr Lieutenant, denn das pfeifen hier die Spatzen von den Dächern, daß sie für Sie nach und nach ihr bißchen Geld hingegeben hat. Die Julia macht ihr keine Last, die lebt ja so nebenher von ein paar Brocken wie ein kleines Vögelchen. Und da mußt’ ich daran denken, wie ich sie einstmals zuerst gesehen habe, als ich da drüben in dem Hause zu thun hatte – ein kleiner dummer Lehrbub’. Sie war damals noch ein junges schönes Mädchen, und ich habe gemeint, so wie sie müßte die Jungfrau Maria ausgeschaut haben, als sie noch auf Erden ging. Aber nicht bloß wegen ihrer Schönheit ist sie mir so unvergeßlich geblieben, sondern weil an dem Tage mein Vater verunglückt ist. Eine Mutter hatte ich schon nicht mehr, und wie nun die Leute gekommen sind und haben in den Keller herunter geschrien – denn dort mauerten wir – ‚Alois, Dein Vater ist verunglückt, sie bringen ihn eben tot heim!‘ und alles hat nun lamentiert und ist davongelaufen, um den Verunglückten zu sehen, so daß ich armes Wurm plötzlich ganz allein im Keller blieb und nicht wußte, wie mir geschehen war – sehen Sie, Herr Lieutenant, da ist auf einmal das schöne junge Mädchen dagestanden und hat den armen kleinen schmutzigen Lehrbuben in die Arme genommen, hat ihm das struppige Blondhaar gestreichelt, in dem Kalk und Spinnweben hingen, und hat gesagt: ‚Du armer Bub’, ach, Du armer Bub’!‘ Und sehen Sie, das – das –“ Er brach ab, schneuzte sich und sprach barsch weiter. „Also, Sie wissen nun – nicht Ihretwegen, sondern – na, die Sache ist abgethan – auf Wiedersehen in Berlin! Sehen Sie, daß Sie so heimlich abreisen, wie Sie gekommen sind, es kann uns allen nur daran gelegen sein, daß die Geschichte totgeschwiegen wird. Guten Abend!“

Dann schlug die Thür, und er war aus dem Zimmer gegangen, es dem Offizier überlassend, sich mit sich selbst zurechtzufinden.

Der nahm seinen Hut und verließ mit zusammengepreßten Lippen das Haus, wüthend, beschämt, und doch im hintersten Grunde seiner Seele mit einem Gefühl unendlicher Erleichterung.

Er wanderte in der Finsterniß am heimischen Grundstück vorüber, unten, längs des Stromes. Im Stübchen der Tante brannte Licht; es wollte etwas wie Mitleid mit der alten Frau über ihn kommen, da rief er sich selbst zur Ordnung. Nur keine Sentimentalität, nur kein Leben auf der sogenannten Mittelstraße! Ein Lieutenantsleben mit achtzehn Thalern Zulage monatlich – nimmermehr! Und als er dort stand und hinaufstarrte, reifte ein Entschluß in ihm – Afrika! Hinaus in eine andere Welt!

Vom Fenster des Eisenbahnwagens blickte er dann noch einmal zu dem Städtchen hinüber und suchte den spitzen Thurm der Krautnerschen Villa. „O, dieses Mädchen!“ Er ballte die Faust, er hatte sich doch recht redlich in diese blonde Nixe vergafft gehabt, und nun so! – Und dazu mußte er noch Wohlthaten von dem alten sentimentalen Narren annehmen, denn einen anderen Ausweg gab es nicht! Er zündete sich eine Cigarre an und bei ihrem aromatischen Dufte beruhigte sich allmählich sein Grimm. Seiner Schulden ledig zu werden, das war am Ende nicht zu unterschätzen, wozu über das andere sich grämen!

Am nächsten Mittag kam er sehr gefaßt ins Kasino zu Tische und zwei Tage später reichte er, gleichzeitig mit seinem Abschied, das Gesuch um eine Stelle als Offizier in der deutschen Schutztruppe für Ostafrika ein.

„Nanu?“ fragten die Kameraden, „wir meinten, Sie wollten heirathen?“

Er strich den Schnurrbart und antwortete nachlässig: „Ich passe absolut nicht zu einem Philister, das Glück kommt noch früh genug.“ Und dann trank er seinen Porter mit Ale aus und sagte, er müsse auf den Bahnhof, um einen alten Onkel zu empfangen, der es sich durchaus in den Kopf gesetzt habe, die Sehenswürdigkeiten des Nestes zu bewundern; deshalb werde er auch heute abend nicht zu Tische kommen. Und der alte Onkel war Herr Alois Krautner, der dem Herrn Lieutenant helfen wollte, sich zu arrangieren.

*  *  *

So um halb neun Uhr an jenem selben Abend, da Therese ihre Verlobung gelöst – der junge Offizier hatte kaum das Krautnersche Grundstück verlassen – kam vorsichtig aus dem Nachbarhaus die schlanke Gestalt Julias; sie trug ein Präsentierbrett mit einem Tellerchen Kuchen und Creme und sollte beides mit den herzlichsten Wünschen für baldige Heilung der kranken Hand dem Thereschen von der Frau Räthin überbringen. Julia kam den Gartensteig daher, wo sich im Schnee noch die Fußspuren des Bruders zeigten, und hatte keine Ahnung, daß er hier geschritten war, daß sich eine bedeutungsvolle Stunde seines Lebens vor kurzem hier abgespielt hatte.

Sie trat in den Hausflur, und als niemand erschien, ging sie hinüber zu Theresens Thür und pochte. Aber kein gastliches „Herein!“ erscholl. Da drückte sie auf die Klinke und steckte ihr dunkles Köpfchen durch den Thürspalt. „Darf ich eintreten?“ klang es freundlich in die Ohren Theresens, die in einem der kleinen Sessel am Kamin saß und der Thür den Rücken zuwandte.

Nun spraug sie auf, und Julia sah in ein blasses Gesicht mit unheimlich sprühenden Augen.

„Was willst Du?“ fragte Therese barsch und unfähig, ihre Erregung zu verbergen; „ich bin totmüde und will zu Bett gehen.“

„Wie stehst Du nur aus!“ sagte Julia nicht im mindesten verletzt, weil sie die Leidende in ihr sah. „Hast Du große Schmerzen?“

„Ja!“

Mamsell Unnütz stellte den Teller aus der Hand und wandte sich zum Gehen. „Wart’ nur, Therese, ich hole den Doktor!“

„Ich will ihn nicht – um Gotteswillen, bleib!“ schrie es hinter ihr, und Therese zerrte die Freundin so hastig am Kleide zurück, daß die Falten rissen. „Entschuldige!“ stotterte sie.

„Ja, was hast Du denn nur, Thereschen, Du bist ja schrecklich aufgeregt!“

„Geh’ zum Vater,“ murmelte das blonde Mädchen, „sag’, er soll zu mir kommen!“

Julia ging. Sie fand Herrn Krautner in seinem Zimmer; er saß im Lehnstuhl am Fenster und schaute in den dunklen verschneiten Garten hinaus.

„Was willst Du, Töchterchen?“ fragte er weich, mit einer Stimme, die ganz anders klang als sonst. Julia richtete Theresens Bitte aus.

Der alte Mann blieb eine Weile still. „Sage ihr, wenn sie Verlangen hat nach mir, so könne sie auch den Weg zu mir finden,“ sprach er dann. „Das Kind soll zum Vater kommen, nicht umgekehrt! Leider habe ich’s versäumt, ihr das bei Zeiten klar zu machen; von heute ab wird’s anders.“

Und als ihn Julia fragend und verwundert anblickte, strich er über ihre Wange. „Es hat ihr die Mutter gefehlt, die Mutter, Kind, und der alte Mann hat in das Einzige, was ihm geblieben, hineingeschaut wie in einen goldenen Becher und hat die Tochter angebetet wie ein Christkindel. Es hat nicht gut gethan, nicht gut gethan!“ Und er schüttelte den Kopf.

„Sie kommen nicht, Herr Stadtrath?“ fragte Mamsell Unnütz noch einmal leise.

Er hob sich ein wenig vom Stuhle, dann sagte er wieder: „Nein, ich komme nicht.“

„Thereschen,“ sprach Julia drüben zu der Harrenden, „ich weiß ja nicht, was Ihr miteinander habt, aber Du bist das Kind, geh’ hinüber zu ihm, gieb ihm die Hand!“

Statt aller Antwort begann Therese bitterlich zu schluchzen. „Niemand will mich verstehen, niemand kann ich es recht machen! Selbst wenn ich elend und krank bin, nimmt man keine Rücksicht auf mich. Ich gehe nicht, ich gehe nicht zu ihm; behandelt hat er mich, als sei ich eine Verbrecherin und lieber laufe ich fort und komme niemals wieder, nie!“ Und sie fing abermals an zu weinen, bis sie in einen Zustand von Aufregung gerieth, daß Mamsell Unnütz noch einmal hinüberflog, um den alten Herrn zu bitten, doch ja zu kommen, die Therese scheine ernstlich krank zu sein.

Da kam er und trat zu dem blassen zitternden Geschöpf, das auf dem Sofa lag; sorgsam breitete er die Decke über den schlanken Körper, und sein unschönes, sonst so joviales Gesicht hatte einen wunderbaren Ausdruck von Kummer und Zärtlichkeit.

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