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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

im Grabe fänden sie keine Ruh’ – und alles für Euch beide, die Ihr hier hereingeschneit seid ohne einen Funken von Zugehörigkeit, nur weil das verliebte Frauenzimmer da droben einmal Euren Herrn Vater hat heirathen wollen! Das ganze schöne Vermögen, das von Gottes und Rechts wegen dem Fritz gehört, es ist zum Kuckuck, verjubelt und verlumpt durch den Herrn Lieutenant Adami! Daß ich doch durchgesetzt hätt’, was ich gewollt, und hätt’ diese schwache Person da oben in eine Anstalt bringen lassen!“

Das junge Mädchen lehnte bleich an dem Thürpfosten. Sie fand diesem Ausbruch des Hasses gegenüber kein Wort; aber instinktmäßig wandte sie sich zur Flucht, als die erboste Frau den Truhendeckel zuwarf, daß es wie ein Kanonenschlag durch das Haus dröhnte, und aufs neue ihre Stimme erhob. „Und Du – Du unnützes Ding, Du –“

Julia war im Flur, sie wußte selbst nicht wie, sie wußte nicht, wie sie in den dunklen Winkel kam auf das Bänkchen jenseit der Treppe, wo sie schon als Kind in ohnmächtigem Zorne die kleinen Hände geballt hatte. Auch heute bebte sie am ganzen Körper, und dann wollte ihr das Herz stille stehen, als die Thür des Doktors aufgerissen wurde und seine eiligen Schritte über die Steinfliesen hallten.

„Liebster Himmel, was ist denn geschehen?“

Sonst pflegte Frau Minna zu verstummen, wenn er erschien, aber der Verlust des Familiensilbers hatte sie zur rasenden Löwin gemacht. Sie berichtete in den höchsten, fast kreischenden Tönen die entsetzliche Thatsache, daß die schweren silbernen Kaffeelöffel mit dem Wappell der Mutter, einer geborenen „Von“, der ganze Stolz der Trautmanns, verloren seien, und das nur wegen dieser – dieser hergelaufenen –

„Bitte, beruhige Dich, Mutter, das ist noch kein Grund, sich derartig aufzuregen.“ Die Stimme des Sohnes hatte einen so eisigen Klang, daß die hohe Temperatur der alten Dame genau so rasch sank, als wäre sie in eins der kühlen Bäder getaucht worden, durch die er die Fieberhitze seiner Kranken herabzumindern verstand.

Die Räthin setzte sich auf die Truhe und begann zu schluchzen. „Du nimmst alles so leicht,“ jammerte sie. „denkst nie an die Zukunft; es ist doch wahrlich nicht gleichgültig, wenn man eines Tages eine solche Last ganz und gar aufgepackt bekommt.“

„Welche Last?“

„Nun – Riekchen und die Julia. Mit dem Riekchen ging’s ja noch, sie ist auch meine Schwester – aber, die Julia, die –“

„Beunruhige Dich nicht, sie wird Dir nie zur Last sein.“

„So?“ Frau Rath hatte aufgehört zu weinen, und dieses „So?“ war schon wieder auf kriegerischen Ton gestimmt. „Wie denkst Du Dir denn ihre Zukunft?“ forschte sie.

„Nun, mein Gott, warum soll sie nicht ebensogut dereinst eine glückliche Frau werden wie tausend andere Mädchen auch?“

Ein spöttisches Lachen der alten Dame begleitete seine Antwort. „Da wär’ ich neugierig, den kennenzulernen, der so dumm ist und die nimmt! Ebensowenig, wie Du sie nimmst, nimmt sie ein anderer, meinst nicht? oder hast Du vielleicht Absichten?“

Die Schelle der Hausthür erklang jetzt und schnitt die Antwort des Doktors jäh ab.

Julia saß ungesehen in ihrem Winkel; mit pochendem Herzen lehnte sie ihren schwindelnden Kopf gegen die braune Holzwand der Treppe. Sie hörte, ohne es recht zu fassen, daß der Arzt zu einem Kranken gerufen wurde, eilig, sehr eilig, gleich darauf rasche Schritte, seine Schritte, die das Haus verließen; dann war alles still. Da erhob auch sie sich, stolz lächelnd und doch den Kopf gesenkt, und so ging sie die Treppe hinauf in das Wohnzimmer zu Tante Riekchen.

Die alte Dame stand mitten in der Stube, zitternd und blaß. „Was war denn unten wieder für ein unangenehmer Auftritt? Ich hörte Minnas Stimme bis hier herauf.“

„Unangenehm?“ fragte Julia und schüttelte wie verwundert den Kopf.

Tante Riekchen seufzte erleichtert. Des Mädchens bleiches Antlitz sah ja so zufrieden aus, daß in der That nichts von Belang geschehen sein konnte. Julia aber ging ab und zu und besorgte ihre kleinen Obliegenheiten wie im Traume. – –

Der feierliche Tag, an dem die Räthin ihre Kaffeegesellschaft geben wollte, war angebrochen. Ein ganz unglaublicher Aufruhr hatte im Hause geherrscht, bis gegen vier Uhr endlich Ruhe eintrat. Der Doktor hatte gleich nach der Sprechstunde Reißaus genommen; in seinen beiden Stuben befand sich ohnehin kaum noch ein Stuhl. Im Flur vermischte sich der Duft des feinen Kaffees mit dem des Räucherpapiers, das Frau Rath zu festlichen Gelegenheiten wahrhaft verschwendete. Die alte große Laterne unter der Decke, die eine moderne Petroleumlampe beherbergte, war angezündet; Luischen und das kleine Dienstmädchen von Fräulein Riekchen prangten in frisch gebügelten steif gestärkten weißen Schürzen, und in den beiden Stuben der Räthin brannten Lampen und Lichter.

Frau Minna selbst ging noch einmal musternd aus einem in das andere Gemach, strich über die weißen Damasttücher, betrachtete mit Stolz die silberne Zuckerdose und Rahmkanne auf dem Tische vor dem Sofa der guten Stube und freute sich über ihre Gummibäume, Pflanzen, die sie zärtlich liebte und deren Blätter sie heute mit ein wenig Gänsefett abgerieben hatte. Sie glänzten auch wie frisch lackiert; dieser Kunstgriff war ein Geheimniß, das sie sorgsam hütete, so oft sie auch gefragt wurde, wie sie es nur mache, daß die Blätter gar so frisch und üppig aussähen.

Mamsell Unnütz, die von der Tante wieder in Gnaden angenommen war, erschien eben in zierlicher weißer Schürze, um als Haustochter die Honneurs in der Vorderstube zu machen, wo die jungen Mädchen ihren Kaffee trinken sollten.

„Und daß Du die Tassen nicht so voll schenkst!“ hielt die Räthin für nöthig zu erinnern, „und daß Luischen einmal bei der Bürgermeisterin und das andere Mal bei der Frau Direktorin zu präsentieren anfängt. Riekchen ist natürlich, eigensinnig wie immer, oben sitzen geblieben?“

„Ja; sie meint, sie kenne doch all’ die Leute nicht, und sie fühlt sich auch nicht wohl; sie ist in so trüber Stimmung.“

„An Gründen hat’s ihr noch nie gefehlt,“ erklärte die Tante. „Ihr Goldsohn wird ja wohl noch am Leben sein, wenn er auch nicht schreibt,“ murmelte sie ärgerlich. „Da klingelt’s übrigens – sind die Mädchen auf dem Posten?“

Mamsell Unnütz beeilte sich, den ersten Ankömmling zu empfangen, aber als sie auf den Flur trat, war es nicht ein Gast, der eingetreten war, sondern der Briefbote, der Julia für die Tante droben ein Schreiben übergab. Sie betrachtete es seufzend; es war wieder nicht vom Frieder, und die alte Dame wartete gar so schmerzlich auf Nachricht von ihm, der schon seit Wochen schwieg. Sie barg den Brief in der Tasche, er kam noch früh genug vor die Augen der vergrämten Tante. Es war die schon zum siebenten Mal gesandte Rechnung eines großen Wäschegeschäftes in Berlin, bei dem der Herr Lieutenant sich die wunderbarste Ausstattung an Weißzeug bestellt hatte, die jemals ein junger eleganter Offizier besessen.

Ach, war das eine schwüle Atmosphäre da droben, in der das junge Mädchen jetzt athmen mußte! Was nur die Phantasie eines einsamen, verbitterten Menschen ersinnen konnte, das ersann die alte Frau in ihrer Sorge um den einzigen Menschen, an dem in dieser Welt ihr Herz noch hing. Bald sah sie den vergötterten Pflegesohn krank im Lazareth; bald, und das war ihr die schrecklichste Vorstellung, sah sie ihn aus Verzweiflung leichtsinnig werden, ein ausschweifendes Leben führen, und dann schlug sie die Hände vor das Gesicht und flehte Gott an, sie das nicht mehr erleben zu lassen. Zweimal hatte sie eingeschriebene Briefe an ihn geschickt, gestern früh mit bezahlter Rückantwort telegraphiert, ob er krank oder gesund sei – aber Frieder schwieg.

Und Julia schiffte, so gut es ging, über dieses trübe Wasser, ihr Lebensschifflein, das kleine armselige Ding, mit bescheidenen Rosen umkränzend und das Steuer einem goldenen herrlichen Landungsplatz zulenkend, und sie verlor den Muth nicht, obgleich das Ziel noch immer nicht näherrücken wollte. Sie redete immer und immer wieder der alten Dame Trost zu und ertrug Vorwürfe und Schelte mit Gelassenheit. Am liebsten hätte sie gesagt: „Um Frieders Zukunft laß Dir nicht bangen, er ist ja Therese Krautners heimlicher Bräutigam!“ Aber es war ihr streng verboten, zu reden – wer weiß, welches Unheil sie damit angestiftet hätte. Und so konnte sie nichts weiter thun, als auch ihrerseits an ihn schreiben und ihn inständig bitten, er möge doch endlich Nachricht geben.

Sie wollte sich eben in das Zimmer zurückwenden, da klingelte es abermals, und im hellen pelzverbrämten Abendmantel, das rosige Antlitz von einer weißen Kapuze umschlossen, trat mit dem Schlag vier Uhr – der für die Kaffeegesellschaft festgesetzten Stunde – Thereschen ein.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 714. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_714.jpg&oldid=- (Version vom 15.8.2022)