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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Händen, ganz versunken in ihr Elend, und plötzlich entrang sich ein Schluchzen ihrer Brust.

Da sprach eine Stimme: „Um Gotteswilten, Unnütz, was soll’s denn, daß Du hier sitzt? Du mußt Dich ja auf den Tod erkälten.“

„Mich friert nie!“ sagte sie trotzig.

„Unnütz, ich glaube Dir vieles, aber das nicht,“ antwortete der Doktor gutmüthig. „Weißt Du, daß ich eine Viertelstunde bei Tante Riekchen auf Dich gewartet habe? Ich wollte Dich gern sprechen, ehe ich fortgehe – aber wer nicht kam, warst Du. Endlich fällt mir dieses sogenannte Atelier ein. Himmel, wo bist Du denn eigentlich? Gieb mir die Hand und führe mich hinunter, es ist ja eine tolle Temperatur hier oben.“

Er hatte tastend ihre Hand erfaßt, und nun zog er ihren Arm unter den seinigen. „Komm,“ sagte er, „führe mich, ich weiß hier nicht Bescheid im Finstern.“

„Was willst Du von mir?“ fragte sie, und ihre Stimme hatte einen spröden eisigen Klang.

„Mein Gott, so komm’ doch erst – ich will Dir’s auf dem Weg erzählen; viel Zeit habe ich nicht, Kind, ich will – ich muß auf – –“

„Ach ja, auf den Ball! Verzeih’ ich vergaß,“ und sie zog ihre Hand zurück.

„Ich soll wohl den Hals brechen, weil Du mich losläßt?“

„O nein!“ Und unter ihren Fingern sprühte ein Streichholz auf und entzündete ein Lichtstümpfchen in einer winzigen Laterne. „So, jetzt kannst Du sehen.“

Sie schritt, ihm leuchtend, aus dem Dachkämmerchen der Treppe zu. „Du wolltest mir in aller Eile noch etwas sagen?“ sprach sie, ohne sich umzuwenden.

„Hm – ja – um es kurz zu machen, ich wollte Dich fragen, ob Du wohl – ob es Dir nicht angenehm wäre, wenn ich Dich bitte, mir ein paar Stunden Deines Tages zu opfern, mir ein wenig zu helfen bei meiner Arbeit – kurz und bündig: ob Du während meiner Sprechstunden die Honneurs in meinem Wartezimmer machen möchtest. Es kommt vor, daß ich einmal nicht gleich da bin, daß Kranke ungeduldig werden, daß sich die Damen untereinander mit der Erzählung thörichter Krankheitsfälle aufregen, und so weiter. Da brauche ich ein freundliches Gesicht, ein taktvolles Wesen, ein mitleidiges Herz – und das alles hast Du, Unnütz, und deshalb wollte ich Dich fragen.“

Sie standen just auf dem Absatz der alten schmalen Bodentreppe, das Laternchen erhellte nur schwach den nächsten Umkreis, aber es genügte doch, dem Manne das glückselige Leuchten zweier dunkler Augen zu zeigen.

„O, wie gern!“ sagte sie, und auf dem lächelnden Antlitz war keine Spur von Traurigkeit mehr vorhanden.

„Guter kleiner Unnütz,“ murmelte er, gerührt von ihrer Bereitwilligkeit, „denk’ es Dir nicht zu schön!“

„Du glaubst nicht, wie ich mich darauf freue, Fritz, aber – die Tante! Ich muß ja kochen.“

„Ist schon alles in Ordnung, Julia; Tante wird sich wieder ein Mädchen nehmen.“

„Das geht nicht,“ rief das junge Mädchen ängstlich, „wirklich nicht, Fritz! Ach, Du weißt ja gar nicht wie – –“

„Ich weiß alles; bitte, frage nicht weiter, Kind! Also, Du willst mir helfen?“

„O Gott, freilich!“

„Dann komm’ morgen früh zu mir, aber etwas vor der Sprechstunde, damit ich Dir dieses und jenes noch sage. Und nun auf Wiedersehen, Unnütz! Schlaf’ süß!“

„Auf Wiedersehen!“ wiederholte sie kaum hörbar und sah ihm nach, während er eilig die Treppe hinunterschritt. Er hatte ihr nicht einmal die Hand gegeben, sie merkte es nicht; sie war zu glücklich, daß sie ihm helfen durfte. Was kümmerte sie noch der Ball, was Therese? Sie konnte arbeiten mit ihm, für ihn, das war doch etwas anderes als mit ihm zu tanzen!

Wie ein Vogel flog sie die Stufen hinab und in die Stube zu Tante Riekchen. „O wie gut Du bist, Tante,“ sagte sie innig und trat zu der alten Dame, die mit einem Strickstrumpf am Tische bei der Lampe saß, verdrießlicher noch als heute früh.

Fräulein Riekchen zuckte die Schultern. „Man muß ja wohl Unterstützungen annehmen,“ sagte sie bitter.

„Ach nein, Tante; ich meine, daß Du mir erlaubt hast, Fritz drunten zu helfen.“

„Na ja, das meine ich auch; oder glaubst Du, er will’s umsonst von Dir haben? Er hat mir genau gesagt, was Du monatlich von ihm bekommst.“

Das Mädchen war plötzlich bleich geworden bis in die Lippen. „Er will mir das bezahlen?“ fragte sie unsicher.

„Allerdings, und zwar recht anständig.“

„Das will ich aber nicht!“ stieß Julia empört hervor.

„Warum denn nicht, wenn ich fragen darf? Hast Du etwas zu verschenken? Ob der Herr Doktor, der just in die Mode gekommen ist und Dich als Empfangsdame engagiert, der Fritz ist oder ein anderer, das kann Dir doch wohl gleich sein!“

Auf Julias Gesicht wechselten jäh Röthe und Blässe. „Dann nimm Du das hin, was ich verdiene,“ sagte sie endlich hart, „und erzähl’ es mir nie, wann er es Dir giebt, und wieviel – ich mag’s nicht hören!“ Und sie wandte sich ab und ging aus der Stube. Sie – sie seine bezahlte Dienerin! Das hätt’ er ihr nicht zu bieten gewagt, wenn er sie wirklich liebte!

In stummer Qual rang sie die Hände; und so saß sie die halbe Nacht neben ihrem Bette in der kalt gewordenen Stube und versuchte ihr junges stolzes Herz zur Ruhe zu zwingen. Und dazwischen meinte sie Geigenklänge zu hören und silberdurchwirkte Gewänder zu sehen und ein leuchtendes Blondhaar, in dem ein Sternchen sprühte und funkelte. „Sie muß alles haben, was Mode ist,“ hatte Herr Alois Krautner gerufen. Nun, der Doktor Fritz Roettger war ja auch eben Mode – sagte nicht die Tante so?

„Guter kleiner Unnütz!“ klang es ihr im Walzertakt immer wieder vor den Ohren; seine hellen klaren Augen blickten aus dem Gewimmel der tanzenden Paare, das sie vor sich sah, zu ihr herüber – „Weißt Du es denn nicht, Unnütz, daß ich es gut mit Dir meine?“

„Ja,“ sprach sie halblaut, „ich weiß es, ich weiß es! Du warst bis jetzt der einzige Mensch, der gütig zu mir gewesen ist, und deshalb hängt meine Seele, mein Leben an Dir. Kränke mich nicht, um Gotteswillen, kränke mich nicht, es wär’ mein Tod! Ich kann es mir nicht vorstellen, daß es anders sein soll, daß Du mich nicht liebst! Großer Gott, laß es nicht zu, gieb ihm Liebe für mich ins Herz – er muß mich lieben, ich will nicht leben sonst!“

Das letzte klang wie ein erstickter Schrei. Aber hier war niemand, der ihn vernahm, und die Angst und Leidenschaft verhallten ungehört und unbeschwichtigt. –

Im strahlend hellen Tanzsaal der „Traube“ sammelte sich in dieser Stunde eine unglaubliche Menge von Cotillonorden auf dem schwarzen Frack des Herrn Doktors. Ja, er war mächtig in die Mode gekommen! Und ganz zuletzt schwebte eine lichte blaue blonde Fee zu ihm heran und brachte ihm lächelnden Gesichts den letzten Orden, er schlang den Arm um sie und flog mit ihr über das Parkett. Und neben der Frau Räthin, die mit stolzer Befriedigung dem Paare nachsah, schlug sich Herr Alois Krautner mit der Hand auf die Knie und lachte. „Schönes Paar, Frau Nachbarin, schönes Paar!“ rief er, „gewachsen sind sie wie die Thüringer Tannen!“ Und dann musterte er seine eigene verschrobene dicke Gestalt und seiner Nachbarin eckige Figur und stieß sacht mit dem Ellbogen an ihren Arm. „Wo sie’s nur her haben? Von uns beiden nicht, Frau Räthin, sicher nicht! Bums, da ist die Musik alle; haken Sie ein, Frau Räthin möcht’ die Ehre haben, Ihr Nachbar beim Kaffeetrinken zu sein.“

Und ihrem Fritz zulieb lächelte die Räthin über die wenig schmeichelhafte Offenherzigkeit des alten „Grobians“ und legte ihm würdevoll die Hand auf den Arm. –

Mitternacht war längst vorüber, als der Doktor mit seiner Mutter schweigend nach Hause ging. Daheim angelangt, steckte er die ganze Cotillonherrlichkeit in den Papierkorb; nur ein einziges Sternchen lag am andern Morgen auf seinem Schreibtisch just neben dem Briefpapier.

Und auf diesem Sterne hafteten die Augell von Mamsell Unnütz, die mit stolz erhobenem Kopf neben dem Doktor stand und ihre Instruktion als „Empfangsdame“ anhörte.

„Und nun vorwärts,“ schloß er fröhlich und nahm einen Augenblick ihre Rechte zwischen seine beiden Hände, „jetzt kommt unsere Arbeit, kleiner Kamerad!“


„Wahrhaftig, Unnütz, Du bist wie eigens geschaffen zu Deinem Amte,“ sagte einige Wochen später der junge Arzt zu Julia, als sie es fertig gebracht hatte, ein schreiendes Bübchen so

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 710. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_710.jpg&oldid=- (Version vom 15.8.2022)