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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

es wäre ungerecht, wollte man bloß diese Seite des edeln Vogels hervorheben. Wer den Edelfinken in der Noth des Winters beobachtet, erkennt in ihm das Noble seines eigentlichen Wesens. „Während der süße Pöbel der Miststätten in buntem Durcheinander mit hängenden Flügeln und Köpfen kleinmüthig und hastig Futter sucht, rückt der Finke abseits in fester Haltung voran und senkt nur das Haupt, wenn er Nahrung aufnimmt. Er fällt nie mit ungestümer Gier philisterhaft über irgend einen Brocken oder ein Korn her, noch weniger balgt er sich um einen Bissen pueril und niedrig wie der Spatz ... Unwillkürlich werden wir bei solchem Anblick an die Haltung eines Mannes von Charakter erinnert, der sich vom Schicksal nicht entmuthigen läßt, die durch Entbehrungen erregten Begierden zu beherrschen vermag und seinen Werth durch die Art und Weise zu erkennen giebt, wie er das Seinige genießt.“ Sein Aeußeres entspricht seiner ritterlichen Natur. Das prangende Frühlingskleid des Hahnes – leuchtet es nicht vom bläulichen gesträubten Scheitel her wie eine Sturmhaube? Kriegerisches Feuer spricht aus den Augen unter dem schwarzen Sturmbande der Stirn, Liedes- und Kampfeslust aus dem lebhaften Weinroth der Kehle und Brust. Vom schneeweißen Spiegel der dunklen Flügel und dem grünbraunen Hauche seines Oberkleides glänzt die helle Zierde der Noblesse wie ein Wappenschild. Und unter diesem äußeren Schmucke schlägt ein urkräftiges Herz voll schallenden Sanges. –

Gruppe von Distelfinken.
Zeichnung von Adolf Müller.

Noch haben wir eines Vetters, des Hänflings, zu gedenken. Freilich steht er hinter dem Stieglitz und Edelfink in vielem zurück, aber dennoch ist auch er ein so schmucker, schlanker und feiner Vogel, eine vollkommene Patriziergestalt in seinem Frühlingskleid und ein so herrlicher Sänger, daß ihm an der Seite seiner Verwandten in der Familie der Finken ein lobendes Wort wohl gebührt.

Das Volk hält den Hänfling sehr gern im Käfig, denn der aufgeweckte, nach kurzer Zeit sehr zutrauliche Vogel lernt leicht die Liedchen, die man ihm vorpfeift oder auf der Vogelorgel vorspielt, sowie die Weisen anderer Vögel. In der freien Natur prangt der Hänflingshahn auf der Stirn und an den Seiten der Brust prachtvoll blutroth, an Hals und Kehle frisch gelbweiß, auf dem Kopf und im Nacken röthlich-aschgrau; sein schwarzer, schlanker Fischschwanz ist weiß berandet. Indessen wechselt sein Kleid je nach Jahreszeit und Alter. Nach der Federung im Herbste erscheint das Roth der Brustseiten nur matt und spärlich, während gegen das Frühjahr hin besonders beim alten Männchen ein entschiedeneres Bluthroth auf den Federspitzen an Brust und Stirn hervortritt, ein Schmuck, der dem Hänfling vorzugsweise zu seinem Namen „Bluthänfling“ verholfen hat. Am jungen Männchen ist das Roth in dem Aschgrau des Scheitels und Nackens nur angedeutet, weil die äußeren Ränder der rothen Federn in diesem Alter noch grau gefärbt sind; erst der zweite und dritte Frühling giebt dem Hahne den purpurnen Hochzeitsschmuck. In der Stube geht dies Prachtkleid zu dem unscheinbaren gestrichelten Rostbraun des Weibchens und der Jungen zurück. Man erblickt dann außer der netten Gestalt, dem allerliebsten niedlichen Köpfchen und Schnäbelchen und dem munteren Wesen nichts besonders Hervorragendes an dem Aeußeren des Vogels, ein Beweis, daß er hauptsächlich durch seine inneren

Vorzüge so beliebt geworden ist. Und in der That ist sein echter

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 692. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_692.jpg&oldid=- (Version vom 12.4.2024)