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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

„Aber ist das ’mal geschickt! Sie hat mir der liebe Gott auf den Weg gegeben, wie wollte ich das sonst gefunden haben! Und auf ’nen Wagen reicht mein Geld nicht; und fragen – sie haben hier alle soviel zu thun, da steht einem keiner Red’ und Antwort! Bei Ihnen ist das auch bloß, weil Sie von zuhaus’ sind!“

Der Gepriesene lächelte ein wenig und machte zugleich vor einem stattlichen Hause Halt, dessen erste Fensterreihe hell erleuchtet war.

„Der Name Ihrer Frau Tochter?“ fragte er.

„Willdorf heißt der Herr Sohn!“

Der Fremde horchte bei Nennung des Namens betroffen auf und sah den Alten unschlüssig an – endlich sagte er: „Hier ist es – eine Treppe hoch!“

Der Alte trat bis in die Mitte der Straße zurück und besah sich kopfschüttelnd das Haus.

„So groß und so fein! Bei uns kann ich mit der Hand aufs Dach greifen! Ja, so die Stadt! Adieu, und ich dank’ auch vielmal!“

„Und Ihr Bündel?“

„O Gott – der Sonntagsrock und die guten Stiefel! Das macht, weil mir das Herz so klopft! Nein, bloß die Freud’, die Freud’ von meinem Kind!“

Der Fremde drückte auf die Glocke, die hohe Hausthür sprang auf. „Nun also, Gott befohlen, Landsmann! Und – – und“ – er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, unterdrückte es aber.

Der Alte antwortete nicht. Er stand schon in dem geräumigen, schön erleuchteten Treppenflur, staunte die Figuren in den Nischen an, die Treppenläufer, die auf jeder Stufe von einem blanken Messingstab festgehalten wurden, das zierliche Geländer, die großen Topfpflanzen auf den Treppenabsätzen. Langsam stieg er empor. Eine große Milchglasscheibe, die fast die ganze Breite der Thür einnahm, daneben ein Porzellanknopf und ein Schild. „A. Willdorf“. Wie verzaubert starrte der Bauer darauf hin. Mit dem Lesen ging es etwas besser als mit dem Schreiben – er buchstabierte sich das Wort zusammen. Zaghaft drückte er endlich auf den Knopf – ein heller, schriller Laut wurde hörbar. Hinter der großen Glasscheibe bewegten sich ein paar Schatten lebhaft hin und her. „Das wird der Konditorgehilfe mit den Torten sein, Karoline!“ hörte der Alte eine wohlklingende Stimme sagen, die ihm alles Blut im Herzen stocken ließ. „Schicken Sie ihn ja nicht eher fort, als bis ich die Torten gesehen habe! Vielleicht ist es auch der Gärtner mit den Cotillonsträußchen, der einmal wieder zu früh kommt – ich habe ihn erst auf Zehn bestellt! Haben Sie die Fruchtschalen herausgenommen, Frau Wegner? Lassen Sie nur, ich komme schon!“

Bei den letzten Worten wurde die Thür geöffnet, ein Dienstmädchen mit einer schneeweißen Schürze und hochgerötheten Wangen erschien und prallte beim Anblick des weißhaarigen alten Mannes erschrocken zurück. „Gott, ich dachte, der Konditor – zu wem wollen Sie denn?“

„Ich – ich – meine – Frau Willdorf –“ stammelte der alte Mann mühsam.

„Sie sind wohl fehlgegangen! Und dann – die gnädige Frau ist gar nicht zu sprechen, sie ist nicht zu Hause!“

„Was ist denn, Karoline? Eine Bettelei? Wie oft hab’ ich Ihnen schon gesagt, Sie sollen sich auf keine Verhandlungen einlassen! Thür zu, und fertig!“

„Lenchen!“ rief der Bauer, ließ Stock und Bündel fallen und breitete weit die Arme aus.

„Ist das – das ist doch nicht –“

Die Dame, die jetzt in der offenen Thür sichtbar wurde, war schon in voller Gesellschaftstoilette, sie trug ein hellröthliches Seidenkleid, das vortrefflich zu ihren braunen krausen Haaren und ihrem feinen Gesicht paßte, und blasse Theerosen auf der Brust; die Schleppe des Kleides hatte sie einstweilen hoch aufgesteckt, um beim Gehen und Hantieren nicht gehindert zu sein. Alles in allem eine auffallend hübsche stolzgewachsene junge Frau, der man in keiner Miene, keiner Bewegung die Verwandtschaft mit dem unbeholfenen alten Mann ansah.

Jetzt starrten ihre großen hellen Augen erschrocken, beinahe entsetzt, in das Gesicht des unerwarteten Gastes; sie traf auch keinerlei Anstalt, in die ihr entgegengebreiteten Arme zu eilen. Einen raschen, forschenden Seitenblick warf sie auf das Mädchen und die Kochfrau, die beide unthätig, mit neugierigen Gesichtern, dastanden, dann murmelte sie halblaut: „Nicht hier! Jetzt nicht! Hier herein!“ Sie öffnete eine Thür zur Rechten und winkte mit einer ungeduldigen Gebärde dem Alten, ihr zu folgen. Er war gänzlich benommen, stolperte über seine Bündel, während er sie aufheben wollte, und stotterte unzusammenhängende Worte heraus. Die junge Frau ergriff zuletzt selbst eines der Bündel und schritt damit voraus in das Zimmer, dessen Thür sie geöffnet hatte.

Dieses war ein großes, schönes Gemach, glänzend erleuchtet, mit geschnitzten Möbeln undd einem prachtvollen Büffett aus Eichenholz. Eine mit blendend weißem Damast gedeckte Tafel in Hufeisenform wies einen Ueberfluß an spiegelndem Silber und Krystall, an Blumen und Weinflaschen auf. Frau Willdorf zog den Alten hastig an der Hand weiter.

„Wir haben Besuch heute abend, Gesellschaft – Du siehst – dreißig Couverts – es ist – ich habe alle Hände voll zu thun, weiß nicht, wo mir der Kopf steht – der Bankdirektor, die Herren vom Komite, der Aufsichtsrath! Tritt leise auf, dort ist Arthurs Zimmer, er darf nicht wissen, daß Du da bist!“

Sie waren in einen zweiten Raum gelangt, in den Salon, der ebenfalls hell erleuchtet und noch eleganter ausgestattet war; eine Nebenthür führte in das Zimmer des Hausherrn.

Leise, langsam schlich der alte Mann in seinen plumpen knarrenden Stiefeln über das spiegelnde Parkett, überallhin furchtsame Blicke werfend. Jetzt ein kleineres Gemach, mit weichen dunkeln Teppichen und Vorhängen, dann ein schmaler Gang und wieder eine Thür, hinter der lautes helles Lachen und Schwatzen erklang.

Die junge Frau athmete hoch auf, als sei sie hier vor irgend einem Feinde in Sicherheit. „Die Kinder!“ sagte sie halblaut. „Sie sollten schon zu Bett sein, allein ich kann mich nicht um sie bekümmern. Sie haben sollst ein anderes Zimmer, ich mußte das aber zur Damengarderobe nehmen!“

In dem kleinen Stübchen brannte eine Hängelampe, drei Kinderbetten standen an den Wänden. Ein etwa sechsjähriger Junge, halb entkleidet, hatte eine Schachtel Zinnsoldaten auf dem Tisch umgestürzt und begann, sie in Reih und Glied aufzustellen. Ein sehr hübsches zehnjähriges Mädchen in einem weißen gestickten Kleide, mit langen Locken, stand vor einem Querspiegel und zupfte emsig an seiner blauseidenen Schärpe. Beide Kinder ließen im höchsten Erstaunen die Hände sinken als sie die Mama in dieser sonderbaren Begleitung eintreten sahen.

„Nun – – so kommt her, gebt eine Hand – sagt guten Abend – das ist Euer Großpapa!“

Der Knabe sah betroffen auf, das Mädchen warf den Kopf zurück und rührte sich nicht.

„Habt Ihr nicht verstanden?“ fragte die Mutter mit verschärfter Betonung. „Herkommen sollt Ihr und eine Hand geben!“

Sie näherten sich nun beide, jedoch langsam und zögernd. Das Mädchen rührte kaum mit den zarten Fingerspitzen an die grobe rauhe Hand des Alten, der Junge reichte seine Rechte hin, rieb sie dann aber sofort sorgfältig an seinem Höschen ab.

„Wie – wie geht es Dir denn – Vater?“ Die junge Frau streifte flüchtig mit ihren Lippen die runzlige Wange des Alten. „Das ist ja schön, daß Du uns einmal besuchst – es ist nur, – heute paßt es gar zu schlecht – ein unglückseliges Zusammentreffen. Bist Du immer gesund gewesen? Und die Mutter auch?“

Der alte Mann blieb einstweilen stumm. Immer von neuem gingen seine hellen, kindlichen Augen in ungläubigem Erstaunen über die Dame im eleganten Seidenkleide hin. Das, das sollte sein Lenchen sein, das früher so zahllose Male auf seinen Knien eingeschlafen war, das in dem niederen Bauernhäuschen so lustig gespielt hatte, für das er jeden Abend betete? Und das waren ihre Kinder, die feinen zarten Püppchen mit dem gekräuselten Haar und den gestickten Kleidern – das sollten seine Enkel sein?

„Ihr seid immer gesund gewesen?“ wiederholte Frau Willdorf.

„Dank der Nachfrag’ – ja – nein – die Mutter liegt wohl fast immer – und ich – ich hab’ meine Reißungen – die Wohnung ist so naß –“

„Ja,“ unterbrach sie ihn hastig, „ja, ich weiß! Ihr werdet Euch gewundert haben, daß wir Euch nichts schicken, aber,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 668. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_668.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2023)