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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


Ketten.
Roman von Anton v. Perfall.
(6. Fortsetzung.)


Für Claire war durch den Tod des alten Grafen ein Besuch der Rennen unmöglich gemacht, ihr Vater haßte den Sport und wäre so wie so nicht hinzubringen gewesen. So fuhr Frau Emilie allein auf den Rennplatz, um den Triumph ihres Sohnes mit anzusehen.

Auf dem Sattelplatz herrschte große Aufregung, als es bekannt wurde, daß Otto Berry für Maltiz reiten werde. Vergeblich machten die, welche auf Helios gewettet hatten, Einwendungen – der Stall und Helios gehörten beiden Herren zusammen, jeder von ihnen hatte somit die Berechtigung, zu reiten.

Am Totalisator rief die Nachricht einen völligen Umschwung der Stimmung hervor, das Vertrauen auf Helios sank bedeutend. Aber um so höher mußte der Gewinn sein, wenn sich das Mißtrauen, das man dem neuen Reiter entgegenbrachte, nicht bewahrheitete.

Otto selbst war voller Zuversicht. Noch tags zuvor hatte er das Pferd geritten, es war willig seiner Führung gefolgt; auch der Trainer hatte ihm Muth zugesprochen, das Pferd gehe ja von selber, er solle nur anfangs dessen Kräfte schonen. Jetzt saß er schon im Sattel und ritt mit seinen Rivalen dem Startplatz zu. In diesem Augenblick brachte ihm ein Diener des Rennvereins einen Expreßbrief mit dem Poststempel Kossan. Er steckte ihn uneröffnet in die Tasche. Er wußte ja, was darin stand: Verhaltungsmaßregeln, Befürchtungen, die ihn höchstens beunruhigen konnten. Nach dem Rennen war Zeit genug, ihn zu lesen.

Das Zeichen ertönte, das Summen der tausendköpfigen Menge erhob sich einen Augenblick zu einem tosenden Brausen, dann trat lautlose Stille ein. Die Reiter flogen dichtgedrängt die Bahn entlang, nun tauchten sie unter in der schwarzen wogenden Masse der Zuschauer, nun tanzten sie, farbige Punkte bildend, in weiter Ferne wieder auf der Oberfläche. In Zwischenräumen erscholl donnerndes Hurra von den Hindernissen her.

Nach dem ersten Umritt saß noch alles im Sattel; Helios lief an dritter Stelle – Otto zügelte sichtlich sein Feuer. Aber der Sprung des edlen Thieres war elastisch; tadellos, spielend nahm es eben das Hinderniß vor der Tribüne, von seinem Reiter vortrefflich unterstützt. Laute Zurufe belohnten die Leistung. Im Umsehen nahm Helios den zweiten Platz ein und behauptete ihn, so weit man blicken konnte.

Die Aufregung wuchs, der Name Helios ging von Mund zu Mund; die, welche ihrem Vertrauen auf das Pferd trotz des jugendlichen Reiters treu geblieben waren, jubelten. Der Totalisator verhieß fünfzigfachen Gewinn, im Falle Helios siegte. Die Gegner hofften noch immer auf einen Fehler des Reiters im entscheidenden Augenblick, Berry hatte ihrer Ansicht nach das Pferd ohnehin schon zu früh ausgelassen. Nun galt es den letzten Umritt, nachdem Helios beim zweiten bis um eine Kopflänge an das führende Pferd herangekommen war. Das erste Hinderniß, das jetzt passiert werden mußte, nahm Helios nicht mehr so leicht, der linke Hinterfuß stieß hörbar an die Schranke an; ein bedauerndes „O!“ ging durch die Menge. Dennoch hielt er seinen Platz, ja er rückte sogar unmerklich vor. Da erschien das zweite Hinderniß – Helios stutzte, sein Rivale flog in weitem Bogen voraus. Man sah Otto aufrecht in den Bügeln stehen, die Gerte schwingend, das Pferd sprang in kurzen Sätzen an – da, ein dumpfer Krach, ein wilder Aufschrei, wirres Drängen und Laufen – „Helios gestürzt!“ flog die Kunde bis zu den Tribünen.

Eine Dame in der ersten Reihe fiel in Ohnmacht – es war die Kommerzienräthin Berry. Ein junger Arzt, der sich in ihrer Gesellschaft befand, ließ ihren Wagen kommen und fuhr mit ihr durch die gaffende Menge, welche, den Zusammenhang nicht kennend, mit ihrer Aufmerksamkeit zwischen den beiden pikanten Schauspielen, der ohnmächtigen Frau und dem verunglückten Reiter, schwankte, nach der Villa Berry zurück. Ein Blick hatte ihn überzeugt, daß für den Gestürzten schon gesorgt wurde. Dieser lag, die Zügel noch in der Hand, den Tod im fahlen Antlitz, neben seinem Pferde, das den Hinterfuß gebrochen hatte und qualvoll stöhnte. Ein Arzt war um Otto beschäftigt, Offiziere umstanden ihn. Nun richtete sich der Arzt mit einer bezeichnenden Bewegung auf. „Vorbei!“, sagte er leise. „Das Genick gebrochen.“

Auf ein Zeichen von ihm näherten sich Leute mit einer Tragbahre und nahmen den regungslosen Körper auf.

In diesem Augenblick tönte die Glocke vorn am Sattelplatz. Donnerndes Hurra, Hüteschwenken von der Tribüne her! Das Rennen war beendet, man jauchzte dem Sieger zu, und die Menge drängte von der Unglücksstätte hinweg einem erfreulicheren Anblick zu.

Der traurige Zug mit dem Toten zog einsam über die öde Fläche dem Sattelplatz zu, begleitet von einigen Weibern und Kindern, die sich von dem aufregenden Schauspiel nicht trennen konnten.

*  *  *

Als Frau Berry zu sich kam, sah sie Claire und den Gatten um sich bemüht. Erst allmählich dämmerte ihr das Bewußtsein des Geschehenen auf. Aber sie konnte sich nur noch des Rufes erinnern: „Helios gestürzt!“ – was war aus Otto geworden? Herr Berry tröstete sie, selbst nicht das Schlimmste fürchtend – jede Minute müsse Nachricht eintreffen. Diese blieb jedoch auffallend lange aus. Auch Claire wurde jetzt von tödlicher Angst erfaßt. Der Bruder hatte ihr nie besonders nahegestanden, zwischen ihren grundverschiedenen Naturen bestand eigentlich von jeher nur das Band der Gewohnheit, allein der Gedanke, daß er mitten aus dem üppigen Leben heraus seinen Tod gefunden haben könnte, erfüllte sie mit Grauen.

Endlich fuhr ein Wagen vor. Berry bestimmte die Damen, zu bleiben, dann eilte er die Treppe hinunter. Ein Kamerad Ottos kam ihm entgegen – die ernste, feierliche Miene desselben redete deutlich genug.

„Sie bringen meinen Sohn – tot?“

Der Offizier nickte stumm.

Die Hausthür ward weit geöffnet, Diener trugen die in einen schwarzen Mantel gehüllte Leiche herein. Mechanisch griff Berry nach dem Treppengeländer, um nicht zusammenzubrechen. Da lag sein einziger Sohn vor ihm, einem waghalsigen Spiele geopfert! Der Ernst des Todes in den jugendlichen Zügen verlöschte die Erinnerung an die Schmerzen, die ihm dies Kind bereitet, unter heißen Thränen küßte er das starre Antlitz.

In diesem Augenblick ertönte ein gellender Schrei – Frau Berry hatte sich aus den Armen ihrer Tochter losgerissen, war in furchtbarer Angst die Treppe hinuntergeeilt und fiel nun vor der Leiche in die Knie.

Zum ersten Male hielt der Tod Einzug in dieses glückliche Haus. Claire, die der Mutter gefolgt war, erschauerte vor seiner grauenvollen Majestät; blitzartig fühlte sie die ganze Armuth, die ganze Leere ihres Lebens in den letzten Monaten. Unwillkürlich kam ihr der Gedanke, ob sie, wenn der Verlobte an des Bruders Platz wäre, dann wohl größeren Schmerz empfinden würde ... aber ihr Herz gab keine Antwort auf diese Frage. –

Die Leiche wurde in die oberen Räume gebracht. Als sich der Offizier verabschiedete, um nicht länger die Trauer der Familie zu stören, reichte er Herrn Berry einen verschlossenen Brief, den der Arzt gefunden hatte, als er Ottos Uniform öffnete. Berry erkannte die Handschrift des Grafen und glaubte sich berechtigt, das Schreiben zu öffnen. Vielleicht waren es wichtige Nachrichten, die rasch beantwortet werden mußten. Er las:

 „Lieber Freund!

Meine Unruhe ist unerträglich! Wie nur mein Alter mir diesen Possen spielen konnte und gerade jetzt – verdammtes Pech! Du weißt, was morgen für uns beide auf dem Spiele steht – alles! Schone Helios bis zuletzt, ich kenne ihn; auf kurze Entfernung leistet er unglaubliches, in der Länge, wenn er zu früh angestrengt wird, nichts. Sollte es wirklich schief gehen, so beschwöre ich Dich, thue bei Deinem Alten alles, um die Hochzeit zu beschleunigen. Der Tod meines Vaters darf unter keinen Umständen ein Hinderniß sein, man kann die Feier ja in aller Stille halten. Wir sind verloren, wenn Dein Vater oder Claire zögern – der Wechsel von Lehner ist fällig und wird dem Regiment

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 656. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_656.jpg&oldid=- (Version vom 11.8.2022)